10 große Veränderungen in 50 Jahren Einsatz für indigene Völker

©  Survival

von Stephen Corry, Direktor von Survival International

Survival wurde 1969 von nur einer Handvoll Menschen gegründet, die um das Überleben indigener Völker besorgt waren. In den letzten 50 Jahren entwickelte sich die Organisation zu einer globalen Bewegung, die sich für die Rechte indigener Völker einsetzt. Survival International verfügt über Büros in mehreren Ländern und über Unterstützer*innen in über hundert Staaten. Dies ist mein Überblick über die Veränderungen innerhalb der letzten 50 Jahre.

©  Survival

Die schlechten Nachrichten

Erosion der Menschenrechte

Die wahrscheinlich schlechteste Nachricht ist, dass der Weg Richtung universelle Menschenrechte und progressiven Denkens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Stocken geraten ist. Viele, darunter auch ich, hingen der Überzeugung an, es handele sich dabei um einen zwar langsamen, allerdings stetigen und unaufhaltsamen Prozess. Ich irrte mich. Viele Staatsoberhäupter und Regierungen scheinen sich nicht mehr um ihr schlechtes Image zu kümmern. Ein Skandal jagt den nächsten und der breite Konsens, dass der Kampf um Menschenrechte einen essentiellen Bestandteil menschlichen Strebens darstellt, bröckelt dahin.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob die Idee der Menschenrechte nur einen kurzen, historischen Einschnitt darstellt, der vor einigen Jahrhunderten aufkeimte (basierend auf deutlich älteren Ideen) und in der Zeit nach dem Holocaust seinen Höhepunkt erreichte. Ist das der Anfang vom Ende? Weicht diese Ära nun einer Zeit von religiösem Fundamentalismus (sei es christlicher, muslimischer, jüdischer, hinduistischer oder buddhistischer) und blankem Nationalismus – oder bleibt doch noch eine Chance?

So plädiert Brasiliens neuer Präsident Jair Bolsonaro für eine Schwächung der Rechte indigener Völker, indem er sich auf die politische Agenda des diktatorischen Brasiliens von 1969 zurückbesinnt, dem Gründungsjahr von Survival International. Dabei sind die Indigenen Brasiliens meist gleichzeitig Menschenrechtsverteidiger*innen und Naturschützer*innen. Sie und andere, die ähnliche Rollen einnehmen, sehen sich aktuell mehr denn je bedroht.

Kolonialer Naturschutz

Was hingegen weiterhin an Zuspruch gewinnt, ist die Überzeugung, dass der Schutz des Ökosystems der Erde eine unerlässliche und gleichzeitig universale Verpflichtung darstellt. Dennoch werden oft verschiedenste, sich teilweise widersprechende Lösungsansätze, gleichzeitig vorangetrieben. Leider ist der Naturschutzansatz mit dem meisten Geld, Einfluss und der längsten Vorgeschichte auch der Ansatz, der dafür sorgt, dass indigene Völker und andere lokale Anwohner*innen ihr Land verlassen müssen. Ihre schlechte Behandlung spielt dabei in der Regel keine Rolle.

Das Prinzip ist als „Festung Naturschutz“ bekannt und es gewinnt mit der Schaffung immer neuer „Schutzgebiete“ an Bedeutung. Viele Einheimische, besonders in vielen Ländern Afrikas, nennen es „Landraub“ oder auch eine neue „Welle des Kolonialismus“. Für viele indigene Völker stellt dieser Naturschutz – neben Bergbau und Waldrodung – heute die größte Bedrohung dar. Menschen wurden dafür getötet und einige Völker zerstört.

In noch schlechterem Licht erscheint dieser ohnehin kriminelle Akt, wenn man sich vergegenwärtig, dass indigene Völker meist die mit Abstand besten Hüter ihrer Umwelt sind. Sie und andere lokale Gemeinden zu vertreiben wird wahrscheinlich die Bedrohungen für diese Gebiete verstärken und somit die Schutzziele selbst zunichte machen.

“Nach © Freddie Weyman/Survival

Rohstoffabbau

Während Pläne zum Schutz der Gebiete entstehen, deren ursprüngliche Bewohner*innen gehen mussten, wächst gleichzeitig der Druck Gewinne aus Rohstoffen zu erwirtschaften – vor allem Öl und Mineralien, aber auch vermeintliche „grüne” Ressourcen, wie Wasserkraft, Soja und Palmöl. Dies führt immer tiefer in Gebiete abseits der Ballungszentren. Es sind dieselben Orte, an denen die bedrohtesten indigenen Völker – darunter auch unkontaktierte Völker – Zuflucht vor Gewalt und Landraub gefunden haben. Die „Rohstoff-Grenze“ schiebt sich immer tiefer in ihre Gebiete, unterstützt durch Unternehmen, welche sowohl die Indigenen als auch das Ökosystem, welches sie für Generationen ernährt hat, zerstören.

Ein Großteil des Regenwaldes im Amazonasgebiet hat lediglich Bestand, weil es sich auf indigenen Territorien befindet. Der Ansturm wird durch die neue bzw. erneute Machtdemonstration der Supermächte Russland und China verschlimmert, deren erhöhte Nachfrage nach Rohstoffen von Unternehmen bedient wird, welche sich nicht um Menschenrechte oder ihr eigenes Ansehen scheren.

Tausende gute Zwecke

Vor fünfzig Jahren gab es eine sehr begrenzte Anzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und religiösen Organisationen, welche sich relativ wenigen guten Zwecken (Armut, Gesundheit, Sozialhilfe, Nothilfe, Antirassismus usw.) widmeten. Viele von ihnen agierten unabhängig von Regierungen und Unternehmen.

Jetzt gibt es buchstäblich Hunderttausende gemeinnützige Zwecke. Viele sind wichtig und beachtenswert, aber viele buhlen um dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit und dasselbe Geld. Einige haben zweifelhaften Wert, auch wenn sie sich gekonnten und effizienten Marketings und einer gelungenen Außendarstellung bedienen. Viele von ihnen – ob gut oder schlecht – werden durch Regierungen und Unternehmen finanziert, wobei dies oft nicht transparent ist.

Dieser „Kampf der Themen“ hat Erbitterung und Verwirrung verursacht und echte, gegenseitige Unterstützung unter NGOs, welche einst sehr verbreitet war, ist nun, ungeachtet zahlreicher Partnerschaften, sehr selten geworden. (So war eine der ersten bezahlten Mitarbeiterinnen von Survival eigentlich von Oxfam und bezog auch weiterhin ihr Gehalt von dort.) Die Öffentlichkeit wird von Tausenden guten Zwecken regelrecht überflutet, wovon einige schlichtweg fake sind. So kursieren heute nach Naturkatastrophen oft dutzende Betrugsseiten vermeintlicher Wohltätigkeitsorganisationen im Netz. Wie können Menschen heute noch entscheiden, wem sie Glauben schenken, unterstützen oder helfen sollen?

Das Ende des Weges

Die größte Tragödie von allen ist für Survival mit Sicherheit die Tatsache, dass in den letzten 50 Jahren viele indigene Völker, wie beispielsweise die Bo auf den Andamanen-Inseln, komplett vernichtet wurden. Oder sie wurden auf eine Handvoll oder auch nur einen letzten Überlebenden, wie z.B. den sogenannten „Letzten seines Volkes“ in Brasilien, dezimiert. Dies trifft besonders, aber nicht nur, auf die Tieflandregionen Südamerikas zu.


Die guten Nachrichten

Die indigene Stimme

Vor 50 Jahren ließen sich die Vorschläge zur Lösung der „Probleme“ indigener Völker, die Außenstehende machten, grob in jene unterteilen, die entweder Isolation oder Integration befürworteten. Sogar jene, welche sich ernsthaft um das Schicksal der Indigenen sorgten, missachteten dabei, dass Entscheidungen über ihre Zukunft nur von ihnen selbst getroffen werden sollten. Diese Idee der „Selbstbestimmung“ war in den 1960er Jahren nicht sehr verbreitet, wurde aber bald übernommen, zum Beispiel von Survival, nachdem wir selbst erlebt hatten, wie indigene Völker sich für ihre Rechte einsetzten.

Es ist der wichtigste und positivste Unterschied zwischen damals und heute: An vielen Orten haben indigene Völker ihre eigenen Organisationen und Allianzen hervorgebracht, um ihre Recht zu verteidigen. Zum Beispiel benutzen viele von ihnen soziale Medien oder Survivals Plattform „Tribal Voice“, um ihre Anliegen hörbar zu machen und öffentliche Unterstützung zu erlangen. Zwar geschah dies nicht überall im gleichen Maße und es gab viele Rückschläge, Fehlstarts und unangemessene Kooptationen von Regierungen, Unternehmen und religiösen Gruppen, aber der allgemeine Trend lässt sich als nach vorne gerichtet und progressiv bezeichnen.

Verschiedene indigene Völker sind sich der Tatsache bewusst geworden, dass sie sich an verschiedenen Orten in der Welt denselben Problemen ausgesetzt sehen. Trotzdem schlägt Survival-Mitarbeiter*innen bei dem Versuch dies zu erklären immer noch sehr viel Unglaubwürdigkeit entgegen, besonders von jenen, die weniger Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft haben. Sich der Tatsache bewusst zu werden, im Kampf um die eigenen Rechte nicht alleine zu stehen, wirkt auf viele wie ein Befreiungsschlag. Wir haben das schon Dutzende Male gesagt bekommen.

“Diese © Sarah Shenker / Survival International 2015

Das Bewusstsein in Öffentlichkeit und Politik

Vor fünfzig Jahren noch hatte der Großteil der Öffentlichkeit und die meisten Mainstream-Medien nur einen blassen oder gar keinen Schimmer von der Existenz indigener Völker. Sehr verbreitet war der Glauben, dass sie verschwunden seien oder es unweigerlich tun würden. Viele glauben heute noch an Letzteres, aber nur wenige (zumindest jene mit einem bestimmten Interesse an globalen Entwicklungen) bestreiten heute noch die Existenz dieses wichtigen Teils der Menschheit. Natürlich variiert das Bewusstsein von Land zu Land, allerdings ist die öffentliche Bewegung, welche für die Verteidigung der Rechte indigener Völker ihre Stimme erhebt, von ein paar Hundert auf mehrere Hunderttausend angewachsen.

Besonders in Nordamerika gaben einige Regierungen ihre Verantwortung für die fatalen Folgen zu, die durch ihre frühere Politik verursacht wurden. Im Besonderen gehört dazu die Gewalt gegenüber indigenen Kindern in Internatsschulen (residential schools) – wobei diese Tragödie auf anderen Kontinenten noch heute ihre Fortsetzung findet.

Einige andere Regierungen, besonders in Asien und Afrika, stritten einst die Existenz indigener Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen gewohnheitsmäßig ab. Sie erklärten, dass entweder alle indigen seien oder niemand. Obwohl einige noch immer an dieser Position festhalten, klingt sie mittlerweile zunehmend wertlos und hat an Intensität verloren.

Noch vor einem halben Jahrhundert glaubten viele, die in der Nachbarschaft indigener Völker lebten, dass es nicht falsch sein könne, indigene Menschen zu misshandeln oder gar zu töten. Nur wenige können sich heute noch auf solche Ignoranz berufen.

Unkontaktierte Völker

Obwohl die Existenz unkontaktierter Völker noch bis vor zehn Jahren von vielen Mainstream-Medien für Fake gehalten wurde, ist heutzutage weitgehend anerkannt, dass sie existieren. Tatsächlich weiß Survival heute von weitaus mehr unkontaktierten Völkern als irgendjemand, auch wir selbst, vor 50 Jahren für möglich gehalten hätte. Sie stellen die mit Sicherheit bedrohtesten Gesellschaften der Erde dar, welche zerstört würden, sollten ihre Gebiete nicht geschützt werden.

Ihre extreme Anfälligkeit gegenüber eingeschleppten Krankheiten war wenig bekannt, bis sie durch die Reaktion von Survival auf die Ermordung eines US-Missionars auf den Andamanen-Inseln im Jahr 2018 an die Spitze der Nachrichten katapultiert wurde. Es ist heute schwierig zu behaupten, dass erste Kontakte ohne Todesfälle durch eingeführte Krankheiten stattfinden können. Vor allem in Brasilien wurde dies immer wieder traurig bewiesen.

Erfolge

Zum Zeitpunkt der Gründung Survivals, sagten viele Expert*innen voraus, dass es zum Ende des 20. Jahrhunderts im Amazonas keine Indigenen mehr geben würde. Dieser Fall ist nicht eingetreten.

Viele indigene Völker haben erfolgreich ihr Land verteidigen können oder – wie im Fall isoliert lebender Gemeinden – erlebt, wie es durch die Unterstützung von Außerhalb geschützt wurde. Survival selbst hat hunderte, konkrete Erfolge selbst erwirkt oder zu ihrer Absicherung beigetragen: Land wurde anerkannt; Holzfäller, Missionare oder Siedler wieder ausgewiesen; vertriebene indigene Völker konnten auf das Land ihrer Vorfahren zurückkehren. Zwei wichtige Beispiele, die ohne Survival nicht möglich gewesen wären, waren die Sicherung des Yanomami-Landes in Brasilien (dem größten Regenwaldgebiet der Welt unter indigenem Schutz) und die Verpflichtung der botswanischen Regierung darauf, ihre Politik der Vertreibung der Buschleute von ihrem Land rückgängig zu machen.

Wir spielten auch eine Schlüsselrolle beim Stopp industrieller Ausbeutung in vielen indigenen Gebieten: Beim Abbau von Bauxit in Niyamgiri in Indien, bei Kontakt-Expeditionen zu den Sentinelesen und bei der geplanten Zwangs-Umsiedlung der abgeschieden lebenden Jarawa. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Sentinelesen oder die Jarawa überlebt hätten, wären diese Vorhaben nicht gestoppt worden.

Hartnäckig hinterfragt Survival den rassistischen Stereotyp über den „brutalen Wilden“, der zudem angeblich vor dem unvermeidbaren Aussterben steht. Diese Arbeit hat die Darstellung von indigenen Völkern deutlich verbessert, wobei es noch viele Hindernisse zu meistern gibt.

Das Recht

Sowohl internationale als auch verschiedene nationale Normen und Rechte wurden zu Gunsten von indigenen Völkern verändert. Eine Amerikanische Erklärung über die Rechte indigener Völker wurde von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Jahre 2016 adoptiert und eine gut gelungene Erklärung der Vereinten Nationen zu demselben Thema (UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, UNDRIP) wurde im Jahre 2007, nach jahrzehntelanger Diskussion, verabschiedet. Vier Länder stimmten anfangs dagegen: Die USA, Kanada, Australien und Neuseeland. In diesen vier Regionen der Erde wurde die indigene Bevölkerung in die Armut getrieben und dabei zu großen Teilen getötet. Schließlich akzeptierten aber auch sie, dass UNDRIP gekommen war, um zu bleiben. 1989 wurde zudem die einschlägige internationale Konvention ILO 169 aktualisiert, um auf die Probleme besser einzugehen. Die Ratifizierung dieser wichtigen Konvention durch Spanien im Jahre 2007 fußte vor allem auf der Arbeit von Survival. Von selbst ändern Gesetze und Richtlinien nichts, aber sie setzen Bezugspunkte und können ein Motor für sich wandelnde Einstellungen werden.

Die Zukunft

Einen Blick in die Kristallkugel zu werfen ist oft müßig und sehr wenige der bewegenden Ereignisse der Weltgeschichte wurden tatsächlich vorausgesehen.

Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird, aber solange es kein weit verbreitetes Töten oder drakonische staatliche Repressalien gibt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Rechte indigener Völker zunehmend Anerkennung finden werden. Ihre Rolle sowohl bei der Verteidigung ihres eigenen Landes als auch beim Umweltschutz im Allgemeinen wird in der Welt zunehmend anerkannt. Obwohl ihr tiefes Verständnis für ihre Umwelt oft durch eine andere Sprache als die der westlichen Wissenschaft ausgedrückt wird, könnte und sollte es von einer Welt mit offen Armen begrüßt werden, in der Menschenrechte und Nachhaltigkeit wieder ins Zentrum rücken. Das wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung, sowohl für indigene Völker als auch für die Natur und die gesamte Menschheit. Artenvielfalt ist für das Wohlbefinden aller entscheidend, genauso wie menschliche Vielfalt, welche heute auf der ganzen Welt größtenteils durch indigene Völker repräsentiert wird.

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