Indigene Sprachen sind der Schlüssel zum Verständnis unseres Selbst

© Forest Woodward / Survival, 2015

Mit jeder Sprache, die ausstirbt, verlieren wir ein Stück des menschlichen Kaleidoskops.

© Fiona Watson/Survival
Sprachen sind eines der bedeutendsten Zeichen menschlicher Vielfalt, weil sie offenbaren, wie unfassbar unterschiedlich die Auffassungen von Menschen sind, wie sie sich die Welt erklären und wo sie dort ihren Platz finden. Sie sind auch die besten Bibliotheken, die es gibt, in denen wir die kollektive Geschichte, das Wissen, die Mythologie und die Wahrnehmungen eines ganzen Volkes finden. Doch diese Vielfalt geht auf erschreckende Weise verloren. Einige Expert*innen behaupten sogar, dass 90 % der Weltsprachen vom Aussterben bedroht sind. Aber warum zählt der Verlust indigener Sprachen? Finde heraus, wieso indigene Sprachen unerlässlich sind, um zu verstehen, wie die Welt, in der wir leben, funktioniert, wer wir wirklich sind und welche Fähigkeiten der Mensch besitzt.
Kinder des Kua-Volkes, Botswana, Kalahari. Die grundlegende Ursache für den Tod von Sprachen ist, dass Kinder nicht mehr die Sprache ihrer Eltern sprechen. © Forest Woodward / Survival, 2015

Sprachen sterben, weil Menschen aufhören sie zu sprechen: Aufgrund gesellschaftlichen Drucks, demographischer Veränderung oder äußerer Einflüsse. Die Kolonisierung und der dadurch ausgelöste globalisierte Kapitalismus sind vielleicht die größten „Sprachen-Mörder“ in der menschlichen Geschichte – und dieses Vermächtnis lebt heute fort. Survival International setzt sich gegen kulturzerstörende Internate ein, die aktiv zum Sprachensterben beitragen, indem sie indigenen Kindern nicht die Muttersprache, sondern nur den dominierenden Dialekt oder eine offizielle Landessprache beibringen. Diese systematische kulturelle Auslöschung bedroht das Leben von Millionen von Kindern, ihren Familien und Gemeinden sowie das Überleben der Sprachen auf der ganzen Welt. Trage dich in unseren Newsletter ein, um Updates zu erhalten.

1. Obwohl es auf der Welt 7.000 Sprachen gibt, spricht die eine Hälfte der Weltbevölkerung nur 23 davon. Andererseits gibt es beinahe 3.000 Sprachen, die als bedroht gelten und das bedeutet, dass aktuell fast die Hälfte der sprachlichen Vielfalt auf unserem Planeten gefährdet ist.

2. Der sprachlich vielfältigste Ort auf der Erde ist die Insel Neuguinea, die sich in den unabhängigen Staat Papua-Neuguinea und die Provinz West-Papua, welche unter indonesischer Besatzung steht, gliedert. Auf einer Fläche von 786.000 km² werden circa 1.000 Sprachen gesprochen. In Europa werden zum Vergleich auf einer Fläche von etwa 10 Millionen km² nur rund 100 Sprachen gesprochen.

3. Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen sprachlicher Vielfalt und Biodiversität. Dort, wo es die meisten Arten von Pflanzen und Tieren gibt, werden die meisten Sprachen gesprochen. Sprachen sind eng mit der Umwelt verbunden, in der sie gesprochen werden. Daher enthalten sie in solchen Gebieten reichhaltiges, detailliertes und technisches Wissen über Flora und Fauna sowie die dortige Lebensweise. Wenn Wissenschaftler*innen eine neue Spezies „entdecken“, kann man sein letztes Hemd darauf verwetten, dass die indigenen Völker dieser Gegend bereits einen Namen dafür haben und vielfältiges Wissen darüber besitzen. Diese Sprachen sind ökologische Enzyklopädien und da sie meist nicht niedergeschrieben sind, wird dieses Wissen und Verständnis uns für immer verloren gehen, wenn sie nicht mehr gesprochen werden. Biologische Vielfalt und linguistische Vielfalt gehen Hand in Hand; ist die eine bedroht, ist es die andere auch.
Die Soliga sind die Augen und Ohren des Waldes. Sie erkennen den Geruch verschiedener Tiere und können die Stimmung eines Elefanten erkennen, indem sie die Art und Weise betrachten, wie er seinen Rüssel hält. © survival

4. Ungefähr die Hälfte aller Sprachen der Welt hat keine Schriftform, doch dies bedeutet keinesfalls, dass es ihnen an Kultur fehlt. Ungeschriebene Sprachen sind reich an mündlichen Traditionen. Geschichten, Lieder, Poesie und Rituale werden von Generation zu Generation übertragen und bleiben auch über die Zeit hinweg erstaunlich konsistent und zuverlässig. Wissenschaftler*innen entdecken immer mehr Ereignisse, die teilweise schon Jahrtausende zurückliegen, die in indigenen Überlieferungen aber dokumentiert und erhalten sind, weitererzählt und erstaunlicherweise über Hunderte von Generationen bewahrt.

5. Kein Mensch auf der Erde spricht eine „primitive“ Sprache – so etwas gibt es nicht. Alle Sprachen haben komplexe und einzigartige Regeln für Betonung, Wörter und Grammatik, die ihre Sprechenden kennen und intuitiv verstehen. Tatsächlich erweisen sich gerade indigene Sprachen oft als sehr komplex und spezialisiert, besonders wenn sie von nur wenigen hundert Personen in abgelegenen Gebieten gesprochen werden. Große globale Sprachen wie Englisch, Spanisch oder Mandarin sind relativ einfach und folgen einem vorhersehbaren Muster. Aufgrund dieser Einzigartigkeit sind die Sprachen, die am meisten gefährdet sind, wohl diejenigen, die uns am meisten über die unglaubliche Breite und Vielfalt der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung lehren können.

6. Einige indigene Sprachen zeigen, dass die menschliche Sprache nicht auf Wörter begrenzt ist. Am bekanntesten ist vermutlich die afrikanische Trommelsprache, mit welcher Nachrichten zwischen Gemeinden mit 160km/h übertragen werden. Es gibt ebenso ungefähr 70 indigene Sprachen, die gepfiffen werden können. Es ist keine Melodie, die gepfiffen wird, sondern ein Pfeifen in Wörtern und Sätzen, die wie gesprochene Sprache veränderbar sind. Dies erlaubt Menschen zum Beispiel effizient über bergiges Terrain, auf See oder in dichten Wäldern zu kommunizieren. Pfeifen eignet sich ausgezeichnet bei der Jagd, da es wie ein Vogelzwitschern klingt und keine Beute aufscheucht.
Das Wissen, die Perspektiven und Ideen, die in indigenen Sprachen enthalten sind, sind von unermesslichem Wert für die Menschheit. © Survival International

7. Die von dir gesprochene Sprache formt deinen Bezug zur Welt, begrenzt aber nicht was du denken und verstehen kannst. Während wir eine Abfolge von Ereignissen oder Bildern von links nach rechts anordnen würden, ordnen die Sprechenden einer indigenen australischen Sprache Geschehnisse von Ost nach West, wie den Verlauf der Sonne. So würden sie zum Beispiel eine Bilderserie einer alternden Person unterschiedlich anordnen, je nachdem in welche Richtung sie gerade blicken. Die meisten von uns können nicht mehr instinktiv Ost oder West erkennen, also wären wir in den Augen dieser Menschen nicht im Stande, die Bilder in die „richtige“ Reihenfolge zu bringen. Doch nur weil wir die Welt mit anderen Augen sehen, heißt das nicht, dass wir nicht ihre Logik verstehen.

8. Welche Sprache auch immer du sprichst, Menschen sind Menschen. Wörter wie „Mama“ oder „Papa“ sind erstaunlich ähnlich in beinahe jeder Sprache, mit Variationen wie „tata“, „dada“ und „nana“. Ist dies der Beweis für eine tiefe historische Beziehung zwischen allen Sprachen? Nein. Was es aber zeigt, ist, dass die Münder von Babys gleich sind. Töne wie „ma“, „pa“, „da“ und „ga“ sind am einfachsten zu formen, daher lernen Babys diese am schnellsten. Alle vernarrten Eltern nehmen an, dass sie ihr Kind persönlich anspricht, also werden „Mama“ und „Papa“ Teil des Wortschatzes.

9. Sprachen zeigen uns, dass Menschen fundamental gleich sind, jedoch zur selben Zeit auch unterschiedlich, innovativ und einzigartig auf faszinierende Weise. Sprachen offenbaren nicht nur die schillernde Vielfalt menschlicher Kultur und Erfahrungen, sondern zeigen auch, was es bedeutet, Mensch zu sein und welche Grenzen und Möglichkeiten unser Verstand besitzt. Dinge, von denen wir annehmen mögen, dass sie für alle Menschen gelten, sind nicht für alle selbstverständlich: dass die Vergangenheit hinter uns liegt und die Zukunft vor uns, dass 2 auf 1 folgt, dass Blau und Grün verschiedene Farben sind. Andere Sprachen zeigen andere Wege. Es gibt sogar Belege dafür, dass deine Sprache tatsächlich deine Gehirnstruktur verändert. Es wird geschätzt, dass bereits 97 % der in unserer Geschichte existierenden Sprachen ausgestorben sind. Dies versinnbildlicht eine riesige Lücke in dem Wissen und Verständnis über uns selbst als Menschen. Wenn eine Sprache stirbt, geht ein wichtiges Stück der Menschheit verloren.
Wanniyala-Aetto-Kindern wird die Sprache und Religion der dominierenden singhalesischen Bevölkerung beigebracht. © Survival International

Die Grundursache für das Sterben von Sprachen ist, dass Kinder nicht mehr die Sprache ihrer Eltern sprechen. Dies kann aus verschiedenen Gründen passieren, aber ein Schlüsselfaktor liegt darin, dass Kinder sich schämen, die Sprache ihrer Familie zu sprechen. Survival International setzt sich gegen das „Umprogrammieren“ indigener Kinder in kulturzerstörenden Internaten auf der ganzen Welt ein, wo indigenen Kindern die dominierende Sprache und Kultur aufgenötigt wird. Ähnliche Schulen existierten in der Geschichte Australiens, Kanadas und den USA, wo sie als „Residential Schools“ bekannt sind. Das Trauma, das Betroffenen und ihren Gemeinschaften zugefügt wurde, beschleunigt nicht nur das Aussterben von Hunderten indigenen Sprachen, sondern wirkt sich auch über Generationen aus und führt bis heute zu Leiden.
 
Schließe dich Survival an und unterstütze ein Modell von Bildung für indigene Kinder, das in dem Land, der Sprache, dem Wissen und Glauben der Gemeinde verwurzelt ist. Nicht nur um ihnen eine gute Ausbildung zu bieten, auch, um auf sich und ihre Gemeinde stolz zu sein; für indigene Völker, für die Natur, für die gesamte Menschheit.
Eine Mutter und ein Kind baden in einem Bach in der Nähe ihrer Gemeinde. Was auch immer unsere Unterschiede sind, die Sprache zeigt, dass Eltern überall auf ähnliche Weise mit ihren Kindern verbunden sind. © Toby Nicholas/Survival

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