100 Tage Bolsonaro

Aufnahme von einer Protestaktion in Brasília, April 2018. „Indem wir die Straßen rot färben, zeigen wir, wie viel Blut schon vergossen wurde im Kampf um den Schutz indigener Gebiete“, sagte Sônia Guajajara, eine Sprecherin von APIB. © Marcelo Camargo/Agência Brasil

Von Fiona Watson, Survival-Expertin für Brasilien

Als Jair Bolsonaro am 1. Januar Präsident Brasiliens wurde, haben sich die indigenen Völker des Landes und ihre Verbündeten auf der ganzen Welt auf das schlimmste vorbereitet. Er kündigte an, dass es unter seiner Führung keinen weiteren Zentimeter indigenes Land mehr geben würde. Er erklärte seine Absicht, indigene Völker auch mit Zwang zu integrieren, „genau wie die Armee, die darin großartige Arbeit geleistet hat“, bedauerte aber, „dass die brasilianische Kavallerie nicht so effektiv war wie die Amerikaner, die ihre Indianer ausgerottet haben.“

Es gibt zwei wichtige Lehren, die wir aus den ersten 100 Tagen der Bolsonaro-Präsidentschaft ziehen können. Erstens, dass alle Ängste begründet waren, und die rassistische Regierung offen einen beispiellosen Angriff auf die indigenen Völker Brasiliens begonnen hat, mit dem ausdrücklichen Ziel, sie als Völker zu zerstören, sie gewaltsam anzupassen und ihr Land zu plündern.

Die zweite Lektion ist, dass es Hoffnung gibt, diesen Angriff zu stoppen. Brasiliens Gerichte und der Kongresse können rechtlich und praktisch Einhalt bieten, wenn sie den Willen dazu haben. Und die indigene Bevölkerung selbst organisiert und mobilisiert sich gegen diesen Angriff auf lokaler und nationaler Ebene und hat bereits beachtliche Erfolge erzielt.

Anfang des Jahres schloss sich Survival International dem größten internationalen Protest für indigene Rechte an, den es jemals gab. Auf der ganzen Welt erhoben Menschen ihre Stimmen und Plakate in Solidarität mit der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die selbst in Dutzenden von Städten Proteste organisierte.

“Indigene © Marcelo Camargo/Agência Brasil

Sonia Guajajara, eine indigene Sprecherin, die bei den Wahlen 2018 auch als Vizepräsidentin kandidiert hatte, sagte: „Wir werden uns widersetzen. Wir waren die ersten Menschen, die angegriffen wurden. Wir werden auch die ersten sein, die darauf reagieren." Und Rosilene Guajajara sagte: „Wir haben 519 Jahre Widerstand geleistet. Wir werden jetzt nicht aufhören. Wir werden all unsere Kräfte zusammenbringen und wir werden gewinnen."

“Die © Survival International

Wir sollten nicht unterschätzen, welche große symbolische und praktische Bedeutung es hat, den Kampf indigener Völker zu unterstützen. Nicht nur wegen der wichtigen Hilfe für Personen, die direkt an den Protesten beteiligt sind. Sondern auch, weil Brasiliens Gesetzgeber, Richter, Bürgermeister, Kongressabgeordnete und andere, die nicht mit Bolsonaro verbündet sind, die Stimmen wahrnehmen, die sich auf der ganzen Welt gegen diese Ungerechtigkeiten erheben, die unter ihrer Aufsicht begangen werden.

An seinem ersten Amtstag übergab Bolsonaro die Verantwortung für die Demarkierung indigener Gebiete dem Landwirtschaftsministerium. Die Behörde für indigene Angelegenheiten (FUNAI) geriet damit ins Abseits. Dieser Schritt war eindeutig darauf ausgerichtet, den Schutz weiterer indigenen Gebiete zu verhindern – und das hat er auch getan.

Die neue Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, eine ehemalige Vorsitzende der parlamentarischen Gruppe für Landwirtschaft, erhielt unter anderem eine Wahlkampfspende von einem Großgrundbesitzer, der zuvor der Ermordung eines indigenen Anführers beschuldigt wurde. Der für Landfragen zuständige Abteilungsleiter ist Nabhan Garcia, ein rechtsgerichteter ehemaliger Chef der União Democrática Ruralista, die seit Jahrzehnten gegen den Schutz indigener Gebiete kämpft.

Aber die Entscheidung ist noch nicht Gesetz. Die Anordnung gilt für 120 Tage und muss dann den Kongress durchlaufen. Neben der Legislative kann auch die Justiz eine Schlüsselrolle darin spielen, Bolsonaros schlimmste Exzesse abzumildern. Die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) reichte Ende Januar beim Obersten Gerichtshof eine Klage gegen seine Entscheidung ein, dem Landwirtschaftsministerium die Befugnis zu erteilen, die Grenzen der Schutzgebiete festzulegen. Das Gericht hat in diesem speziellen Fall noch nicht entschieden, aber brasilianische Gerichte haben bereits gezeigt, dass sie bereit sind, sich dem Präsidenten gegenüber zu behaupten, als sie eine Gedenkveranstaltung für den Militärputsch untersagten.

Die Regierung beruft sich auf die „nationale Sicherheit“, um die verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Bevölkerung auszuhebeln. Das Volk der Waimiri Atroari protestiert gegen eine Stromtrasse, die ohne ihre Zustimmung über mehr als 100 Kilometer ihres Landes gebaut werden sollte. Die Leitung hätte zwar Strom in Städte wie Manaus transportiert, aber keine Energie für indigene Dörfer innerhalb des Schutzgebietes geliefert. Die Regierung hat angekündigt, dass das Projekt am 30. Juni beginnen wird. Mitglieder der Waimiri Atroari kämpfen natürlich gegen die Entscheidung.

Bolsonaro wird deutlich: „Brasilien schuldet der Welt nichts, wenn es um den Umweltschutz geht“. Er hat das Verfahren für Umweltgenehmigungen geändert, um den Bau auf indigenem Land zu erleichtern. Mehrere neue Mega-Infrastrukturprojekte wurden angekündigt, darunter ein Damm am Fluss Trombetas, eine Brücke über den Amazonas und eine Verlängerung der 300 Meilen langen Regenwaldautobahn vom Amazonas bis zur Grenze mit Surinam.

Die Regierung hat auch gedroht, sich aus dem wichtigsten internationalen Abkommen über die Rechte indigener Völker zurückzuziehen, dem ILO-Übereinkommen 169. Dies würde die Rechte der indigenen Bevölkerung weiter schwächen und wichtige unabhängige, internationale Kontrollen beseitigen. Brasilien hat das Übereinkommen 169 im Jahr 2002 ratifiziert. Seitdem haben sich Richter und Staatsanwälte darauf berufen, die die verfassungsmäßige Verpflichtung haben, den Staat zu kontrollieren, wenn er indigene Rechte verletzt.

Aber Landräuber warten nicht darauf, dass Gesetze verabschiedet werden oder Richter regieren: mindestens 14 indigene Gebiete sind derzeit Angriffen ausgesetzt. In einem Konflikt, der im Wesentlichen ein Grenzkonflikt ist, denken Holzfäller, Bergleute, Ölsucher und Viehzüchter jetzt zu Recht, dass der Präsident auf ihrer Seite steht. Während des Wahlkampfes wuchs die Entwaldung um fast fünfzig Prozent. Die Landinvasionen nahmen nach Bolsonaros Wahl im letzten Jahre um 150 % zu.

“Straßen © Mário Vilela/FUNAI

Brasilien ist das tödlichste Land der Welt für Umweltschützer, aber Gewalt gegen indigene Völker lässt sich nicht einfach als Kampf um Ressourcen erklären: In vielen Fällen handelt es sich ganz offensichtlich um Hassverbrechen. In der Nacht von Bolsonaros Wahlsieg beispielsweise, wurden eine Krankenstation und eine Schule auf dem Land der Pankararu im Nordosten des Landes in Brand gesteckt.

Bei Survival International erhalten wir weiterhin Dutzende von Berichten aus ganz Brasilien über etwas, dass manchmal wie ein offener Krieg gegen indigene Gemeinschaften wirkt. Um zivilgesellschaftliche Organisationen auszubremsen, die sich seinen Interessen widersetzen, hat Bolsonaro ein Dekret erlassen, wonach Regierungsbehörden „die Aktivitäten und Aktionen internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen auf dem Staatsgebiet betreuen, koordinieren, überwachen und begleiten können“.

Es gab Drohungen, Umweltgruppen auszuweisen, und Ricardo Salles, der neue Umweltminister, hat versucht alle Regierungspartnerschaften mit Umweltverbänden für drei Monate auszusetzen. Er glaubt, dass geschützte Amazonasgebiete die „Entwicklung“ verzögern und befürwortet kommerzielle Landwirtschaft und Bergbau in indigenen Reservaten, einschließlich derjenigen, in denen unkontaktierte Völker leben, was sie mit ziemlicher Sicherheit auslöschen würde.

“In © G. Miranda/FUNAI/Survival

Die Regierung startete sogar einen Angriff auf die Gesundheit indigener Völker. Sie schlug vor, das indigene Gesundheitssystem (SESAI) zu beenden, ein dezentrales Versorgungsmodell mit 34 speziellen indigenen Gesundheitsdistrikten, das in Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinschaften betrieben und auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten wird. Stattdessen würden indigene Patientinnen und Patienten nur auf die gleichen (bereits unzureichenden und überlasteten) kommunalen Dienstleistungen zugreifen wie alle anderen im Bezirk. Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta sagte: „Für 600.000 Indigene sind die Ressourcen, die das Land bereitstellt – ich denke nur wenige Länder der Welt investieren so viel.“

Der Vorschlag löste Empörung und Protest unter den indigenen Völkern im ganzen Land aus. Sie hatten Angst um ihr Leben, insbesondere um das ihrer Kinder und älteren Menschen. Sie befürchteten, dass in den Zentren niemand ihre Sprachen sprechen würde und sie waren besorgt, dass ihre Bedürfnisse nicht durch ein System gedeckt werden könnten, das von und für Menschen entwickelt wurde, die sehr unterschiedliche Lebensstile haben, mit Mitarbeitenden, die nichts von ihrem Leben und ihren Umständen wussten. Von Paraná bis Rondônia, von Pernambuco bis Mato Grosso do Sul besetzten indigene Gruppen öffentliche Gebäude und Autobahnen und baten um Unterstützung für SESAI. Der Minister zog den Vorschlag zurück und versicherte etwa eine Woche später öffentlich, dass das indigene Gesundheitssystem doch nicht abgeschafft wird.

Dieser Sieg ist ermutigend und wichtig, aber all das ist noch lange nicht vorbei: Schließlich sind es nur die ersten 100 Tage.

Die Vorbereitungen für den jährlichen indigenen Aktionsmonat „Indigener April“ laufen auf Hochtouren: Bald werden sich Tausende von Indigenen in der Hauptstadt Brasilia versammeln, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren, ihre Anliegen hervorzuheben und die kulturelle Vielfalt und den Reichtum des Landes für alle Brasilianerinnen und Brasilianer sichtbar zu machen. In diesem Jahr wird es natürlich noch dringender sein.

Sydney Possuelo, ein ehemaliger Direktor von FUNAI und ein großer Verfechter der Rechte der ersten brasilianischen Völker, fasste es so zusammen: „Die Situation der indigenen Bevölkerung Brasiliens war noch nie sehr gut. Aber in 42 Jahren Arbeit im Amazonasgebiet ist dies der gefährlichste Moment, den ich erlebt habe.“ Und ein Sprecher der Guarani, David Karai Popygua, sagte: „Es ist, als würde die Regierung uns jetzt ins Visier nehmen, um uns auszulöschen.“

Er hat völlig Recht, und die offene Verehrung der Diktatur, der Folter, der brutalen Unterdrückung, der staatlich sanktionierten Gewalt und des außergerichtlichen Mordes durch den Präsidenten wirft die erschreckende Aussicht auf, dass das, was wir bisher gesehen haben, in mehr als einer Hinsicht nur der Anfang sein könnte.

Die Originalversion dieses Artikels erschien am 10. April 2019 im Independent. Übersetzung ins Deutsche durch Survival International.

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