Flüchtlinge in unserem eigenen Land
Im Juli 2016 wurden Damiana Cavanha und ihre Guarani-Gemeinde erneut von ihrem Land vertrieben, dass sie erst 2013 unter Lebensgefahr wiederbesetzt hatten. Survival International erzählt ihre tragische und inspirierende Geschichte. Mit Fotos von Paul Patrick Borhaug.
Damiana Cavanha steht am Rand einer Straße in Brasilien. Sie hält eine blau-gefederte Rassel in der Hand, die aus einem Flaschenkürbis gefertigt wurde, und beginnt zu singen. Der Boden ist übersät mit Müll. Hinter ihr steht eine Hütte aus Wellblech, Plastikfolien und Planen.
Lastwagen donnern vorbei; der Lärm übertönt ihr Gebet.
© Fiona Watson/Survival
Damiana gehört zum Volk der Guarani-Kaiowá. Die Guarani gelten als eines der ersten indigenen Völker, das die Europäer nach ihrer Ankunft in Südamerika kontaktierten.
© Paul Enkelaar
Einst erstreckte sich die Heimat der Guarani in Brasilien auf ungefähr 350.000 Quadratkilometer über Wälder und Ebenen. Die Guarani konnten frei auf ihrem Land Wild jagen und in ihren Gärten Maniok und Mais anbauen.
Land bedeutet alles für die Guarani: Es ist ihre Lebensgrundlage und formt ihre Sprache und ihren Glauben. Es ist die Begräbnisstätte ihrer Vorfahren und das Erbe ihrer Kinder. In den letzten hundert Jahren wurde ihnen jedoch fast ihr gesamtes Waldgebiet geraubt und in ein riesiges, trockenes Netz aus Rinderfarmen, Sojafeldern und emporragenden Zuckerrohrplantagen umgewandelt.
© Survival
Vor zehn Jahren bedrohten Rinderfarmer Damiana und ihre Familie und vertrieben sie von ihrem angestammten Land.
Die Gemeinde Apy Ka’y lebt seither in ärmlichen Verhältnissen am Straßenrand. Am 15. September 2013 starteten sie jedoch eine mutige Retomada (Wiederbesetzung) ihres angestammten Landes, auf dem sich inzwischen eine Zuckerrohrplantage erstreckt.
„Wir haben uns entschieden einen Teil unseres traditionellen Landes wieder zu besetzen. Dort gibt es einen Brunnen mit gutem Wasser und ein kleines Stück verbliebenen Wald“, sagte Damiana diese Woche. „Angesichts der Drohung des Todes, dem Verlust unserer Angehörigen und so viel Leides und Schmerzen, entschieden wir uns zum vierten Mal unser Land zu besetzen.“
© Survival
Seit sie sich erinnern können, suchen die Guarani nach dem Ort, den ihnen ihre Vorfahren zeigten. Einem Ort, wo Menschen frei von Schmerz und Leid leben und den sie „das Land ohne Übel“ nennen.
Aber hier fanden sie es nicht, auf diesem roten Fleck Erde im Niemandsland, wo Fliegen in den heißen Hütten schwirren und vergiftetes Wasser in Plastikflaschen, die aus Autos geworfen werden, gesammelt wird.
© Rodrigo Baleia/Survival
Die einzige Wasserquelle der Gemeinde Apy Ka’y wurde durch die Chemikalien, die auf die Soja- und Zuckerrohrplantagen gesprüht wurden, verschmutzt.
„Wenn es regnet, trinken wir wie Hunde schmutziges Wasser“, sagt Damiana.
© Paul Patrick Borhaug/Survival
In den letzten Jahren wurden Damianas Ehemann und drei ihrer Söhne auf der Straße von Fahrzeugen erfasst und getötet.
Sie liegen auf ihrem angestammten Land begraben, welches nun eine eingezäunte Zuckerrohrplantage ist.
Damiana hat große Risiken auf sich genommen, als sie in das Gebiet einbrach, um an den Grabstätten zu beten.
© Paul Patrick Borhaug/Survival
„Sie waren meine drei Krieger“, sagt Damiana über ihre drei Söhne, die auf der Straße getötet wurden.
Die Grabstätte war einer der Gründe für die Entscheidung eine Retomada ihres Landes durchzuführen.
„Wir entschieden uns zu dem Land zurückzukehren, wo drei unserer Kinder begraben liegen“, erklärt Damiana.
© Paul Patrick Borhaug/Survival
Im August 2013 wütete ein Feuer im Lager der Gemeinde Apy Ka’y. Damiana und ihre Gemeinde mussten flüchten, da in ihrer Hütte ein Brand schwelte und ihr Besitz den Flammen zum Opfer fiel.
Das Feuer entstand Berichten zufolge auf der Zuckerrohrplantage und Fabrik São Fernando, die auf ihrem angestammten Land liegen. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Camp von Flammen verschlungen wurde – im September 2009 setzten bewaffnete Männer die Häuser in Brand und griffen die Mitglieder von Damianas Gemeinde an.
Die Guarani sagen inzwischen, dass die charakteristisch rötlich gefärbte Erde durch das vergossene Blut ihres Volkes getränkt ist.
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Der Verlust und die Zerstörung ihres Landes sind der Ursprung des schrecklichen Leidens der Guarani.
Statistiken belegen, dass seit Beginn des Jahrhunderts im Durchschnitt jede Woche mindestens ein Guarani Selbstmord begangen hat. Nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums für 2012, haben 56 Guarani Selbstmord begangen, wobei die Dunkelziffer wohl weitaus höher liegt. Die Mehrzahl der Opfer ist zwischen 15 und 29 Jahre alt. Das jüngste bekannte Opfer war erst neun Jahre alt.
„Die Guarani begehen Selbstmord, weil wir kein Land haben“, sagt ein Guarani. „In den guten alten Zeiten waren wir frei. Wir sind es nun nicht mehr. Also glauben unsere jungen Menschen, dass ihnen nichts übrig bleibt.“
„Sie setzen sich hin und denken, verlieren sich und begehen Selbstmord."
© Paul Patrick Borhaug/Survival
„Unsere Häuser, unsere Kleidung, unser Essen, unsere Töpfe und Pfannen und unsere Matratzen – alles ist verbrannt“, sagte Damiana.
„Wir haben alles verloren, nur nicht unsere Hoffnung, auf unser angestammtes Land zurückkehren zu können.“
© Paul Patrick Borhaug/Survival
Eine Retomada war lange die Hoffnung und der Trost von Damiana. Sie war das Ziel, das sie durch die brutalen Jahre der Vertreibung, Angst, Erniedrigung, Mangelernährung, Schicksalsschläge, Krankheit und der Depression getragen hat.
Doch es ist eine gefährliche Aktion. Andere Guarani, die eine Retomada durchführten, wurden ermordet. Und die finstere Gegenwart der bewaffneten Pistoleiros, die in der Nähe ihrer Unterkunft in ihren schwarzen Geländewagen parken, erinnern immer an den Wert von Land in Brasilien und an den Preis, den Menschen für ihre Handlungen bezahlen. Die Gemeinde hat bereits drei Morddrohungen erhalten und berichtet auch von einem Versuch, ihr Wasser zu vergiften.
© Simon Rawles/Survival
Nur ein dünner Stacheldraht trennt das Camp der Apy Ka’y von der Zuckerrohrplantage, die sich auf ihrem Land ausgebreitet hat. So gibt es für die Guarani auch nur eine schmale Abgrenzung zwischen der Außenwelt der Natur und der Innenwelt des Selbst.
Ihr Heimatland ist die Hauptstütze ihrer Identität: Getrennt von ihrem Land zu leben, ist wie im Fegefeuer zu leben.
„Wir haben uns entschieden, für unser Land zu kämpfen“, sagt Damiana über der Retomada dieser Woche.
© Paul Patrick Borhaug/Survival
Survival International fordert von den brasilianischen Behörden, das Gebiet der Guarani unverzüglich zu demarkieren.
2013 konnte Survival den Ölgiganten Shell erfolgreich davon überzeugen, seine Pläne, Zuckerrohr vom gestohlenen Land der Guarani zu beziehen, zu verwerfen. Survival setzte sich bei Gericht auch erfolgreich dafür ein, den Räumungsbefehl für eine Guarani-Gemeinde in Laranjeira Nanderu aufzuheben.
„Es ist nicht überraschend, dass die Guarani ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen“, sagte Stephen Corry, Direktor von Survival diese Woche. „Sie brauchen dringend Unterstützung, da es sehr wahrscheinlich ist, dass sie wieder vertrieben und angegriffen werden.“
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„Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land.“
Damiana Cavanha.
Im Juli 2016 wurde die Gemeinde Apy Ka’y erneut mit Gewalt vertrieben und musste zurückkehren in ihre Lager am Straßenrand.
© Fiona Watson/Survival