Von 'Wildnis', menschlicher Vorstellung und indigenen Völkern

Ein Jäger der Yanomami läuft lautlos durch den Amazonaswald, Brasilien © Claudia Andujar/Survival

Wie das westliche Konzept von Wildnis und Naturschutz indigene Völker beeinträchtigt.

Das Grasland der amerikanischen Great Plains reicht kilometerweit von der Steppe in South Dakota bis zu den Black Hills. Hier wurde durch die US-Regierung 1980 ein von Flussläufen zerfurchtes und von Fichten bewachsenes Gebiet als “Wildnisreservat” ausgewiesen.

Für die indigenen Völker Nordamerikas war dieses Gebiet allerdings weder wild oder eine “Wildnis”. "Wir sahen das weite offene Flachland, die schönen sanft geschwungenen Hügel, die schlängelnden Bäche mit verworrenem Bewuchs, nicht als wild’’, sagte Luther Standing Bear vom Oglala Lakota Sioux-Volk. “Für uns war es zahm. Nur für weiße Menschen war Natur eine Wildnis.” In ein paar Worten hatte Luther Standing Bear zwei sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen von der natürlichen Welt verdeutlicht.

Ein Hupa-Fischer, USA © Edward Curtis

“Wildnis” existierte in der westlichen Kultur lange als Konzept eines Ortes von unverdorbener natürlicher Schönheit – unverschmutzt durch menschliches Leben: ein Garten Eden, ein Antidot zum Stadtleben. Während des 19. Jahrhunderts spiegelten sich solche Ideen in der Kunst der Zeit. “In der Wildnis ist die Welt bewahrt”, schrieb Henry Thoreau. Für den Naturforscher John Muir diente Verbundenheit mit der Natur dazu seinen Geist zu reinigen. Die Bilder des Fotografen Ansel Adams aus dem Yosemite-Nationalpark enthielten bemerkenswerterweise keine Anzeichen von menschlichem Leben.

Daraus, dass der Natur jenseitige Qualitäten zugeschrieben werden und sie als heiliger Ort gesehen wird, wo Gott lebt, aber der Mensch nicht leben soll, haben sich Ideen entwickelt, die wohl die Basis vieler Naturschutzmaßnahmen bilden. “Seit Jahrzehnten ist die Idee der ‘Wildnis’ ein Grundsatz der ökologischen Bewegung”, schrieb der Historiker William Cronon. Solche Maßnahmen haben indigene Völker stark beeinträchtigt, für die diese “wilden” Orte einfach nur ein “Zuhause” waren.

Der erste Nationalpark der Welt wurde in Yosemite eingerichtet, ein Gebiet das davor seit Generationen vom Ahwahneechee-Volk umsorgt worden war. Anschließend wurde 1872 der Yellowstone-Nationalpark gegründet, nachdem die Regierung die Indianervölker vertrieben hatte, von denen man annimmt, dass sie dort seit mehr als 11.000 Jahre gelebt hatten.

Heutzutage gibt es weltweit geschätzt 120.000 Schutzgebiete, die ungefähr 15% der Landoberfläche der Erde ausmachen. Naturschutz ist ohne Zweifel von vitaler Bedeutung, da die Biodiversität des Planeten stark gefährdet ist. Aber der traurige Hintergrund dieser Statistik – die Geschichte, die im Wunsch, das “Wilde” zu erhalten, übersehen wird – ist eine von menschlichem Leid. Denn im Zuge der Einrichtung von Schutzgebieten sind Millionen Menschen – meistens Indigene – aus ihrem Zuhause vertrieben worden.

Yosemite-Tal, USA © Chensiyuan/CC BY-SA

In Indien sind im Namen des Naturschutzes Hunderttausende Menschen aus Schutzgebieten verdrängt worden, während in Afrika Massenausweisungen aus Nationalparks stattfanden. Unter anderem traf dies die Batwa-“Pygmäen”, welche zum Schutze der Berggorillas gezwungermaßen den Uganda Bwindi Forest verlassen mussten, und das Waliangulu-Volk Kenias, das einst in der Umgebung des Tsavo-Parks lebte. “Diese Art von Landraub entwickelt sich schnell und ist eines der größten Probleme, denen indigene Völker heutzutage begegnen”, sagt Stephen Corry von Survival International.

Für indigene Völker ist es ziemlich egal, ob der Diebstahl ihrer Heimat kommerziellen Interessen oder dem Naturschutz dient. Enteignung für den Naturschutz wirkt vielleicht freundlicher, aber für indigene Völker sind die Folgen genauso katastrophal. Sobald indigene Völker von ihrem Land getrennt sind, setzt der Verlust von Traditionen, Fähigkeiten und Kenntnissen ein, die zusammen das Gewebe ihrer Identität bilden – und so folgt eine starke Abnahme der geistigen und körperlichen Gesundheit.

Viele Massai sind in den Ebenen Kenias zu Hause. © Mariëlle van Uitert/Survival

Ebenso wird das Land von seinen indigenen Eigentümern “geschieden”. Viele der biologisch reichsten Gebiete der Welt sind Territorien indigener Völker, die seit Tausenden Jahren auf raffinierte Weise ihre Bedürfnisse erfüllen konnten und gleichzeitig in ihrer Umgebung ein ökologisches Gleichgewicht in Takt gehalten haben.

Solche nachhaltigen Prinzipen werden durch den Zustand des Amazonasgebiets deutlich: Ein großer Teil des Regenwalds, der außerhalb der Gebiete indigener Völker liegt, ist verkümmert. Innerhalb der indigenen Gebiete ist er hingegen weiterhin intakt. In gleicher Weise liegt der einzige verbliebene Regenwald der Andamanen-Inseln (Indien) innerhalb des Reservats des Jarawa-Volkes. Gerade weil “wilde” Orte lange Zeit durch ihre indigenen Beschützer gepflegt wurden, waren sie später oft Objekt von Schutzmaßnahmen.

Zwei Jarawa entspannen an der Küste der Andamanen. © Salomé/Survival

Das Denken hat sich zweifellos weiterentwickelt seit den Tagen von Yosemite. Einstellungen haben sich auch seit 1964 noch geändert, als der US Wilderness Act definierte: “eine Wildnis wird hiermit als ein Gebiet verstanden, wo der Mensch selbst ein Besucher ist, der nicht verbleibt.” Mit der Annahme der UN-Erklärung zu den Rechten Indigener Völker im Jahr 2007 ist zudem festgelegt, dass indigene Völker “vor der Genehmigung irgendeines Projektes, das ihr Land betrifft” ihre “freie, vorherige und informierte Zustimmung” geben müssen.

Dr. Jo Woodman von Survival International glaubt, dass “es eine neue Vision des Naturschutz gibt, in der indigene Völker als die rechtmäßigen Beschützer des Landes anerkannt werden.” Erst kürzlich hat die indische Regierung ihre Politik, indigene Völker aus biologisch vielfältigen Gebieten auszuweisen, um diese in Nationalparks umzuwandeln, angepasst.

Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Indigene Völker werden nach wie vor nicht in Diskussionen, die den Schutz ihrer Heimat betreffen, involviert, obwohl sie es sind, die, in den Worten des Yanomami-Indianers Davi Kopenawa, “die Auen, die Jagd, die Fische und das Obst erhalten.”

Corry denkt, dass der Erhalt der Biodiversität nur mit der Zustimmung indigener Völker gefördert werden sollte. “Schutz von Ökosystemen bedeutet nicht, dass man sie vor den Menschen, die immer ihre Beschützer waren, schützen müsste”, sagt er. “Rechte des Naturschutzes sollten die Rechte indigener Völker nicht übertrumpfen.”

Es könnte auch Raum für ein breiteres kulturelles Ziel geben. Ein Ziel, dass das Umgestalten der populären Idee von “Wildnis” im westlichen Denken umfasst, indem man anerkennt, dass es eine uralte Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der natürlichen Welt gibt. Denn destruktive Einstellungen stammen teilweise aus dualistischen Ideen: Aus der Betonung des Getrenntseins von Mensch und Natur. “Jede Art und Weise die Natur zu betrachten, die uns ermutigt zu glauben, dass wir von ihr getrennt sind, wird wahrscheinlich unverantwortliches Verhalten verstärken”, sagt William Cronon. Die indigenen Völker der Welt begreifen diese symbiotische Beziehung besser als andere. In den Worten von Davi Kopenawa: “Die Natur ist nicht von uns getrennt. Wir sind in ihr, und sie ist in uns.”

Ein Jäger der Yanomami läuft lautlos durch den Amazonaswald, Brasilien © Claudia Andujar/Survival

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