Genesis: Sebastião Salgados neues Werk und indigene Völker

Zo’é-Frauen tragen ihre Babies meist in Tragegurten aus Palmenfasern oder Baumwolle © Fiona Watson/Survival

Die Jamal-Halbinsel in Sibirien: Eine Frau vom Volk der Nenzen kniet auf dem Boden und schlägt mit einer Axt in das Arktische Eis. Ein Schlittenhund wartet an ihrer Seite. Hinter ihnen erstreckt sich der vom Wind verkrustete Schnee bis zum Horizont. Er lässt sich von dem bleifarbenen Himmel unmöglich unterscheiden.

Die Nenzen sind nomadische Rentierhirten. Das Foto der Frau entstand während der Wanderung ihrer Gemeinschaft von den Lärchen der südlichen Taiga zu den nördlichen Weiten rund um die Karasee. Die Nenzen leben seit über tausend Jahren in dieser Region, folgen ihren Rentieren auf uralten Routen quer durch den Permafrost, essen gekochtes Rentierfleisch, weißen Lachs und Preiselbeeren und brechen dickes Eis, um an Wasser zu gelangen.

Das Bild stammt aus Genesis, einer neuen Ausstellung und dem dazugehörigem Fotoband des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Genesis ist das Resultat von acht Jahren Arbeit, in denen Salgado – wie im Ausstellungskatalog beschrieben – „die verbliebenen unberührten Gebiete, ihre Tiere und Völker“ in 32 Ländern fotografierte.

Salgados wunderschöne Naturaufnahmen zeigen Zügelpinguine, die über Eisberge rutschen, und Albatrosse, die mit ihren langen Flügeln über ihrer Kolonie auf den Falklandinseln kreisen. Sie porträtieren den listigen Blick eines Blutbrustpavians, zeigen, wie ein Perlenvorhang aus Wassertropfen von der Schwanzflosse eines Wals tropft und einen einsamen Pavian, der die Dünen Namibias durchquert.

Die Ausstellung enthält auch atemberaubende Landschaftsfotos, welche in ihrer Erhabenheit beinahe biblisch wirken: Nebelbänke, die sich über einem Fluss in Sambia bilden, raue Bergketten, die aus einem patagonischen Eisfeld aufsteigen, die weiße Majestät eines dahin schwimmenden Eisberges im Weddell-Meer.

Manche Fotos sind aus der Luft aufgenommen, wie das Bild einer Herde Zebras, die bei ihrem Lauf über eine Ebene Staub aufwirbelt. Andere stammen vom Boden, wie das der hundert Kaimanen, deren Augen in der schwarzen brasilianischen Nacht wie Feuerkäfer leuchten. Ein aufregendes Foto wurde aus einem Jeep in Sambia aufgenommen, während dieser mit Salgado an Bord vor einem angreifenden Elefantenbullen davon rast.

Doch als Mitarbeiterin von Survival International und Herausgeberin des Fotobuches We are One, für das Salgado freundlicherweise eines seiner Fotos zur Verfügung stellte, sind es insbesondere Salgados Fotos von indigenen Völkern, die mich interessieren. Genesis enthält Bilder von Buschleuten, die Zweige verwirbeln, um ein Feuer zu entzünden, von Angehörigen der Dinka, die ihre lang gehörnten Rinder hüten, und von Mursi-Frauen am Unterlauf des Omo-Flusses in Äthiopien.

Die große Vertrautheit von indigenen Völkern mit ihrer Umgebung wird in Salgados Bildern sehr deutlich. Diese Intimität zeigt sich beispielsweise in einem Porträt von Waura-Männern, die auf einem nebligen Fluss in Brasiliens Oberer Xingu-Region fischen, im Bild des Mentawai-Mannes, der vor einem Hintergrund aus riesigen Palmen und Lianen einen Baum hinaufklettert, und bei den Yali-Frauen aus West-Papua, die aus Orchideenfasern gewobene Taschen tragen. Ihre unterschiedlichen Umgebungen haben indigene Völker nicht nur jahrhundertelang materiell versorgt, sondern haben ihnen auch geholfen ihre Ideen, Sprachen und kollektiven Identitäten zu formen. „Auf diesem Land sind wir zuhause, wir kennen seine Wege“, beschrieb es eine Akawaio-Frau aus Guyana. Es sollte uns nicht verwundern, dass viele der biologisch vielfältigsten Gebiete in Territorien indigener Völker liegen, die ausgeklügelte Methoden gefunden haben, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen und die ökologische Balance ihrer Umgebung zu erhalten.

In seiner Eröffnungsrede zur Genesis-Ausstellung sagte Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva über Salgado: „Diejenigen, die seine Arbeit verfolgen, werden Fotos sehen, die eine Geschichte erzählen.“ Seine Geschichten lassen uns in der Tat staunen, regen die Fantasie an und erinnern uns daran, dass wir in einer unglaublich schönen Welt leben. Durch kraftvolle Kunst starke Emotionen heraufzubeschwören, ist ein wertvoller Prozess, insbesondere wenn er als Katalysator für Änderungen im öffentlichen Bewusstsein dient – und nicht zuletzt, wenn Gesetze zum Schutz bedrohter Völker, Arten und Orte aus solchen Reaktionen entstehen.

Doch verbergen sich hinter Salgados Bildern von indigenen Völkern auch erschreckende Geschichten. In seinen Fotos können wir sehen, was wir zu verlieren riskieren, wenn wir menschliche Vielfalt vergeuden, wenn Arten aussterben und die Natur kontinuierlich zerstört wird. Wie Salgado in einem Interview sagte: „Heute leben wir auf einem Planeten, der sterben kann. Unsere ganze Existenz ist gefährdet.“

Doch von den Fotos können wir nicht erkennen, was indigene Völker bereits verloren haben – ihre Familien, Heimat, Gesundheit und ihr Glück – oder dass die Existenz von vielen indigenen Völkern schon seit langem gefährdet ist. So haben beispielsweise nur fünf Angehörige der Akuntsu aus Brasilien bis heute überlebt, nachdem bewaffnete Männer im Auftrag von Viehzüchtern ein Blutbad an ihnen angerichtet hatten. Manche Völker sind gänzlich ausgelöscht: Im Durchschnitt verschwand im 20. Jahrhundert allein in Brasilien ein indigenes Volk pro Jahr.

Aus dem Bild der Mursi-Frauen mit Lippenteller aus Ton können wir nicht erkennen, dass deren Zukunft, und die von vielen anderen indigenen Völkern die im Tal am Unterlauf des Omo in Äthiopien leben, auf Messers Schneide steht. Die Völker dieser historisch bedeutsamen Region sind seit Tausenden von Jahren vom Fluss abhängig. Aber ein riesiges Wasserkraftwerk droht den südwestlichen Teil des Flusses zu blockieren, wodurch die natürlichen Überflutungszyklen beendet und die Landwirtschaft der Völker gefährdet würde. „Heute gibt es keinen Gesang und keinen Tanz entlang des Omo-Flusses“, sagte ein Mursi gegenüber Survival International. Die Völker im Omo-Tal werden auch wegen Plantagen für Biokraftstoffe und andere Exportgüter von ihrem Land vertrieben, was bereits zur Verhaftung und Ermordung einiger Menschen geführt hat. „Die Menschen sind zu hungrig. Die Kinder sind still. Wenn die Überflutungen des Omo weg sind, werden wir sterben.“

Das Volk der Zo’é, eines der am stärkten zurückgezogen lebenden Völker unter den kontaktierten Völkern Brasiliens, hat für Tausende Jahre im üppigen Regenwald im Nordwesten des Landes gelebt. Doch in den letzten Jahren sind Goldgräber und Missionare immer wieder in ihr Land eingedrungen. Die Zo’é haben ihre Lebensweise zum größten Teil fortgeführt, sind aber noch immer sehr anfällig für Krankheiten, die Außenstehende beim Eindringen in ihre Land übertragen können.

Wie die Zo’é und Mursi sind die Buschleute Südafrikas nicht nur verletzbar, sondern auch die meist schikanierten Völker in der Geschichte ihrer Region. Für Jahrtausende waren sie Jäger und Sammler, aber als auf dem Land ihrer Vorfahren im Central Kalahari Game Reserve (CKGR) in Botswana Diamanten entdeckt wurden, wurden viele von ihnen aus ihrer Heimat vertrieben. Man brachte sie in Umsiedlungslager außerhalb des Reservats, wo Prostitution, Depression, Alkoholismus und HIV-AIDS inzwischen weit verbreitet sind – soziale Probleme, mit denen sie zuvor nicht kämpfen mussten. „Ich möchte dieses Leben nicht“, sagte ein Gana-Buschmann zu Survival International. „Zuerst machen sie uns mittellos indem sie uns unser altes Leben wegnehmen. Dann sagen sie wir sind nichts wert, weil wir mittellos sind.“ Auch in diesem Moment müssen die Buschleute noch immer für ihr Recht kämpfen, in Frieden auf ihrem Land leben zu dürfen. Auf dem Land, dass sie so gut verstehen, auf dem Land, dass zur Identität ihres Volkes gehört. „Wir sind geschaffen wie der Sand“, sagte ein Angehöriger der Buschleute. „Dieser Boden ist das Land meines Ur-Ur-Ur-Großvaters.“

Deswegen ist es wichtig, dass wir neben den außergewöhnlichen Geschichten, die Salgado in seinen Bildern erzählt, auch Zugang zu den Fakten dahinter haben: Das Land indigener Völker wird von Regierungen und Unternehmen abgeholzt, ausgebeutet und verbrannt, die sich nur für das Holz der Bäume, die Mineralien unter der Erde und das Gold in den Flüssen interessieren. Indigene Völker werden nur selten in solche Entscheidungen einbezogen und oft vertrieben. Seit 1960 wurden geschätzte 100.000 Papua durch das indonesische Militär und andere Behörden ermordet. Der Zerfall sozialer Strukturen, chronische Krankheiten, Selbstmord und geringere Lebenserwartung sind nur einige der Folgen davon, dass man versucht indigene Völker gegen ihren Willen in die Mehrheitskultur zu zwingen.

Das Verschwinden der indigenen Völker dieser Welt ist nicht unvermeidlich. Sie sind keine dem Untergang geweihten Gemeinschaften und nicht dazu bestimmt „naturgemäß“ auszusterben. Es gibt Lösungen und sie basieren auf der Anerkennung von zwei Grundrechten: Recht auf Selbstbestimmung und Recht auf Land. Survival International arbeitet seit mehr als 40 Jahren daran diese Rechte aufrecht zu erhalten – mit vielen Erfolgen.

Aber nur wenn wir uns der Wirklichkeit des Lebens indigener Völker bewusst sind – wenn wir sowohl die grausame Realität als auch die Schönheit ihrer Lebensweisen durch fesselnde Bilder kennen lernen – vervollständigen sich ihre Geschichten.

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