Die Nenzen Sibiriens
Die Nenzen zogen Jahrtausende als Rentierhirten durch ihre Heimat in Sibirien. Doch ihre Lebensweise ist durch Ölbohrungen und den Klimawandel gefährdet.
Die Jamal-Halbinsel: Ein Stück Torfland weit über dem nördlichen Polarkreis, das sich vom Norden Sibiriens bis an die Karasee erstreckt. Im Osten liegen die flachen Gewässer des Obbusen und im Westen die Baydaratskaya Bucht, die fast das ganze Jahr über von Eis bedeckt ist.
Jamal bedeutet in der Sprache der Nenzen “das Ende der Welt”. Die Halbinsel ist ein abgelegener, stürmischer Ort mitten im Permafrost, mit verschlungenen Flüssen und winzigen Sträuchern. Seit über tausend Jahren ist sie auch die Heimat der Nenzen, die lange als nomadische Rentierhirten durch das Gebiet zogen.
Heute ist der nomadische Lebensstil der Nenzen durch die Folgen des Klimawandels bedroht, die die Tundra unberechenbar machen, und durch die Entdeckung der größten Gasvorkommen des Planeten auf der Halbinseln.
Die Wanderung der Nenzen-Hirten und ihrer Rentieren bestimmte sich nach den Jahreszeiten. Ihre Reise führte sie entlang sehr alter Routen.
Im Winter, wenn das Thermometer bis auf 50 Grad unter Null fallen kann, lassen die meisten Nenzen ihre Rentiere an Moos und Flechten in den südlichen Wäldern oder der Taiga grasen. In den Sommermonaten, wenn die Mitternachtssonne die Nacht zum Tag macht, lassen sie die Lärchen und Weidenbäume hinter sich und ziehen Richtung Norden.
Wenn Herde und Hirten die gefrorenen Gewässer des Ob überquert und die baumlose Tundra an den Ufern der Karasee erreicht haben, liegen bis zu 1.000 Kilometer Weg hinter ihnen.
Die Infrastruktur, die mit der Ausbeutung der Rohstoffe in die Region kommt, geht jedoch auch an den Routen der Nenzen nicht spurlos vorbei: Straßen sind für die Rentiere schwer zu überqueren und die Nenzen sagen, dass die Verschmutzung die Qualität des Weidelandes bedroht.
Unter Stalin wurden die Gemeinden der Nenzen in “Brigaden” aufgeteilt. Sie wurden gezwungen, auf kollektiven Farmen und Dörfern, den kolkhozy, zu leben. Jede Brigade war verpflichtet mit Rentierfleisch ihre Steuern zu begleichen.
Die Kinder wurden von ihren Familien getrennt und in staatliche Internate geschickt, wo es ihnen verboten war ihre eigene Sprache zu sprechen.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus begannen die jungen Nenzen in die Städte abzuwandern, ein Trend der noch heute anhält.
In dem urbanen Umfeld ist es ihnen jedoch fast unmöglich, sich dem Leben weit entfernt vom Kreislauf der Tundra anzupassen. Viele der abgewanderten Nenzen leiden daher an Alkoholproblemen, Arbeitslosigkeit und psychischen Problemen.
Für jene Nenzen, die noch als Nomaden leben, sind ihr Land und die Rentiere noch immer sehr wichtig für die kollektive Identität. Land bedeutet uns alles. Alles, sagt Sergei Hudi.
Das Rentier ist unsere Heimat, unser Essen, unsere Wärme und unser Transportmittel, erklärt Sergei Hudi.
Jedes Teil des Rentiers wird genutzt. Lassos werden aus den Sehnen gefertigt; in Werkzeugen und Schlitten werden Teile der Knochen verarbeitet. Der Überzug der kegelförmigen Zelte – choom oder mya genannt – ist ebenfalls aus Fell und wird auf schweren Stäben befestigt.
Das Fleisch der Rentiere ist zudem der wichtigste Bestandteil der Ernährung der Nenzen. Es wird sowohl roh als auch gekocht oder gefroren gegessen. Oft gibt es dazu Blut eines frisch geschlachteten Tieres, das reich an Vitaminen ist.
Jeder Nenze hat ein heiliges Rentier, das weder eingespannt noch getötet werden darf, bis es zu schwach ist zu laufen.
Die Nenzen essen auch Fisch, beispielsweise Weißlachs oder den silberfarbenen muksun. In den Sommermonaten sammeln sie in den Bergen Cranberries.
Die Jacken der Nenzen sind aus Rentierfellen gemacht. Die einzelnen Stücke werden mit den Sehnen der Tiere zusammengenäht.
Unter dem silbergrauen Himmel ist eine Nenzen-Familie in Bewegung: Die Frauen beladen die Schlitten, mit denen sie ihren Besitz transportieren.
Nachts werden die Schlitten in einem Halbkreis um das choom arrangiert.
Doch die Arktis verändert sich schnell. Und während die Temperaturen steigen und der Permafrost schmilzt, gelangen CO2 und Methan – Treibhausgase – in die Atmosphäre.
Je früher das Eis schmilzt und je später im Herbst der Frost kommt, desto häufiger müssen die Hirten die oft jahrhundertealten Wanderrouten ändern, weil es für die Rentiere schwerer wird in der schneearmen Tundra zu laufen.
Die steigenden Temperaturen beeinflussen auch die Vegetation in der Tundra, die einzige Nahrungsquelle der Rentiere.
Einige Süßwasserseen in der Tundra sind bereits versickert, weil der Permafrost geschmolzen ist. Das beeinflusst auch die Möglichkeit der Nenzen Fisch zu fangen.
Auch das Eis auf dem Meer rund um die Halbinsel schmilzt und öffnet die Region für den Schiffsverkehr. Arktische Meeresstraßen eröffnen neue Handelsrouten zwischen Asien, Europa und Nordamerika.
2011 durchquerte der Tanker Vladimir Tikhonov als bisher größtes Schiff die Nordostpassage.
Die Vorbereitungen für die Gasförderung auf der Halbinsel durch den russischen Konzern Gazprom, das Jamal-Megaprojekt, begannen schon in den 90er Jahren.
2012 erfolgten die ersten Gaslieferungen aus dem riesigen Bovanenkovo-Gasfeld. Jedes Jahr werden nun mehrere Milliarden Kubikmeter nach Westeuropa geliefert. Bis 2017 soll rund ein Sechstel des in Russland geförderten Erdgases aus dem Bovanenkovo-Feld kommen.
Was mit dem Land passiert, ist sehr wichtig für uns, sagte Nenzen-Hirte Sergei Hudi kürzlich gegenüber Survival International. Wir haben Angst, wegen all der neuen Industrie bald nicht mehr umherziehen zu können. Und wenn wir das nicht mehr können, könnte unser Volk sogar ganz verschwinden.
Heute treffen die Hirten auf ihren Wanderungen auf Pipelines, Bohrtürme und Asphaltstraßen, die die Tundra verändern. Anfang 2011 eröffnete eine gut 500 Kilometer lange Eisenbahnstrecke zwischen Obskaya und Bovanenkovo.
Wir bitten die Unternehmen unsere Perspektiven bei ihren Planungen zu berücksichtigen, sagt Sergei Hudi. Und es ist wichtig, dass die Gaspipelines nicht den Zugang zu den Weideflächen behindern.
Gazprom nennt die Jamal-Halbinsel auf seiner Webseite eine strategisch wichtige Öl- und Gasregion in Russland. Das fasst ganz gut zusammen, wie sie die Heimat der Nenzen sehen, meint Sophie Grig von Survival International.
Vor wenigen Jahren entdeckte ein Nenze die sehr gut erhaltenen Überreste eines Mamut-Babys. Es muss bei seinem Tod etwa 6 Monate alt gewesen sein und das Fell war noch zu erkennen. Der Permafrost der Jamal-Halbinsel hatte es perfekt konserviert – für wahrscheinlich 42.000 Jahre.
Wissenschaftler fürchten, dass das Weltklima einen gefährlichen Wendepunkt erreicht, wenn Milliarden Tonnen von Treibhausgasen aus dem Permafrost freigesetzt werden.
Die Nenzen haben für Hunderte von Jahren im empfindlichen Ökosystem der Tundra überlebt und es erhalten, sagt Sophie Grig. Ihr Land sollte nicht ohne ihre Zustimmung erschlossen werden und sie müssen eine faire Entschädigung für die verursachten Schäden erhalten.
Die Sorgen der Nenzen werden immer größer, seit Staaten und Unternehmen um ein Stück der Arktis ringen, Wissenschaftler die veränderte Umwelt erforschen wollen und Gazprom bekannt gegeben hat, dass zusätzliche Gasfelder schon 2019 erschlossen sein sollen.
Die Nenzen haben koloniale Besiedlung, Bürgerkrieg, Revolution und erzwungene Kollektivierung überstanden. Heute ist ihr Leben als Hirten erneut bedroht.
Um als Volk überleben zu können, brauchen die Nenzen ungehinderten Zugang zu ihren Weideflächen und eine Umwelt, die nicht von Industriemüll verschmutzt ist.
Für die Nenzen ist die Tundra ihr Zuhause und die Rentiere sind das Leben. Die Rentiere sind unser Leben und unsere Zukunft, sagt eine Angehörige der Nenzen.