Hüter des heiligen Landes: Die Hopi und die Arhuaco
Von Stephen Corry, Direktor
Indigene Völker sind gut funktionierende, zeitgenössische Gesellschaften mit komplexen Lebensweisen und fortschrittlichen Denkweisen, die zutiefst relevant sind für unsere heutige Welt.
Davon auszugehen, dass indigene Völker früher oder später unausweichlich in unsere konsumorientierte Gesellschaftsform einverleibt werden, ist stark vereinfacht. Während einige indigene Völker ohne Zweifel Angepasstheit und materiellen Wohlstand suchen, haben viele von ihnen keinen Wunsch, die Lebensweise und Ziele der ‚Zivilisation‘ anzunehmen, die sie um sich sehen.
Die Idee, dass es von Vorteil sein kann, außerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu existieren, hat in den letzten Jahren mehr und mehr Akzeptanz gefunden. Sie bleibt jedoch weiterhin sehr schwer verständlich für jene, die glauben, dass das Hauptbestreben jedes Einzelnen nur eigener Wohlstand und Macht sein können. Und dass wir uns unaufhaltsam von der Steinzeit zu einer Zeit im Weltall entwickeln. In der Tat ist diese Idee manchen so fremd, dass sie als romantische Fantasie oder Naivität abgetan wird.
Diese Leute bedenken nicht, dass es durchaus wert sein könnte, auf das indigene Wissen über die Wechselbeziehung allen Lebens zu hören – sind doch alle Antworten unserer Industriegesellschaften auf die heutige Welt sehr unbeständig und beunruhigend.
Also was ist nun die Realität indigenen Lebens und Glaubens und zu welchem Maße bestätigt oder widerspricht sie dieser Idee? Dieser Bericht betrachtet diese Fragen anhand des Beispiels zweier Zivilisationen, die die Welt mit höchst feinsinniger und einsichtsreicher Intelligenz betrachten und einen tiefen Respekt und ein umfassendes Verantwortungsgefühl dem Leben gegenüber empfinden. Sie sind kein „Überbleibsel“ aus vergangenen Zeiten, die im Wettlauf der Menschheit zurückfallen, weil sie sich weigern, sich zu modernisieren. Wenn sie „Überreste“ sind, dann nur in dem Sinne, dass sie Überlebende sind. Weit entfernt davon, entmutigtes Überbleibsel einer sie immer noch bedrohenden Invasion zu sein, stellen sie sich dem 21. Jahrhundert mit einem Selbstvertrauen, um das sie viele Menschen der Industriegesellschaften beneiden würden. Wie haben sie das erreicht?
Die Hopi und die Arhuaco
Die Hopi leben im Südwesten der jetzigen Vereinigten Staaten. Fünftausend Kilometer entfernt, in Kolumbien, leben die Indigenen der Sierra Nevada de Santa Marta: die Arhuaco und ihre Nachbarn, die Kogi und die Arsario.
Die Hopi (das Wort bedeutet ‚friedlich‘ und bezieht sich sowohl auf ihre Heimat als auch auf ihre Lebensanschauung) leben umgeben von Wüsten, Canyons und flachen, niedrigen Berge namens ‚mesas‘.
Auf den ersten Blick ist es eine spärliche, ausgetrocknete Welt, wo jeder Anbau schwierig, wenn nicht unmöglich scheint. Trotzdem haben die Hopi dort seit Jahrhunderten von ihrem Mais- und Bohnenanbau sowie ihren Schaf- und Ziegenherden gelebt.
Die Sierra Nevada könnte kaum unterschiedlicher sein. Es ist eine Bergkette, die steil vom Meer bis zu einer Höhe von 5.800 Metern (19.000 Fuß) aufragt. Die Gipfel sind dauerhaft mit Schnee bedeckt, obwohl sie nur 45 Kilometer von der Karibikküste entfernt sind. Die niedere Sierra Nevada ist eine üppige tropische Landschaft mit einer Fülle an Früchten und Gemüse. Die Indigenen dort leben von ihrem Getreide und ein wenig Jagd, außerdem halten sie Schweine, Ziegen und Schafe.
Diese zwei Umgebungen haben äußerst wenig gemeinsam und die Hopi und Arhuaco keinen Kontakt miteinander. Nichtsdestotrotz teilen sie eine Anzahl an beachtlichen Eigenschaften: Ihre Denker*innen fühlen, dass die Menschheit die Welt zerstören könnte; sie glauben, die Hüter tiefer Wahrheiten zu sein; und sie glauben, dass sie die bevorstehende Katastrophe abwenden könnten, würden sie nur gehört werden.
Aber die vielleicht beachtlichste und auffälligste Eigenschaft, die sie beide charakterisiert, ist, dass sie die Integration mit den ‚Weißen‘ kategorisch ablehnen. Sie haben sich einen unzerstörbaren, ja sogar leidenschaftlichen Stolz auf ihre Identität als Indigene und ihre Kultur erhalten.
Diese Tatsache ist besonders beeindruckend, da sie seit vielen Generationen in der Nähe von Außenstehenden gelebt haben. Die Kraft und Unabhängigkeit ihres Geistes sind bemerkenswert.
Es wurde ihnen keineswegs leicht gemacht, ihre Selbstachtung behalten zu können. Ihre Nachbarn behandeln sie mit Verachtung. Beide, die Hopi und die Sierra-Völker, sehen sich denselben Angriffen ausgesetzt, die alle indigenen Völker bedrohen und schon so viele zerstört haben. Das größte Problem aller indigenen Völker ist der Diebstahl ihres Landes und ihrer Ressourcen.
„Solange es ein oder zwei Hopi gibt, die die alten Gesetze nicht vergessen, gibt es vielleicht Hoffnung auf die Rettung der Welt.“
Hopi-Ältester 1993
Viele Überzeugungen
Das Hauptanliegen dieses Artikels ist es zu umreißen, wie indigene Völker die Welt und ihren Platz darin sehen. Diese Überzeugungen zeigen sich in den vielen Facetten ihrer Kultur und vollenden sich in ihrer Spiritualität, ihrer Religion und ihren Ritualen.
Eben diese liefern das unerschütterliche Grundgestein, das sie als lebendige Gemeinschaften durch ihre höchst unbeständige Geschichte zusammengehalten und geführt hat und ihnen ermöglicht, den seit Generationen andauernden Angriffen stand zu halten.
Bevor wir jedoch diese Themen betrachten, ist es wichtig die unvermeidlichen Grenzen dieses Artikels aufzuzeigen.
In vielen Religionen gibt es mindestens genau so viele Interpretationen, wie es Gläubige gibt. Bei den Hopi bezieht sich zum Beispiel jeder Clan auf eigene Geschichten und Rituale, die im größeren Glaubenskontext eingebunden sind.
Des weiteren kann jeglicher Versuch, eine bedeutungsvolle Zusammenfassung mündlicher Überlieferungen (die sich nicht auf eine heilige Schrift beziehen) zu erstellen, im besten Falle nur sehr selektiv, wenn nicht sogar grob vereinfacht sein.
In der Tat sagen die „Hüter“ dieser Religionen, die Ältesten der Hopi und die Priester der Arhuaco (Mamos), dass ihre Weisheit nicht durch das geschriebene Wort weitergegeben werden kann. In beiden Kulturen werden Großteile der essentiellen Lehren nur ernsthaften Schüler*innen offenbart, die über die nötige Berufung, Menschlichkeit und Ausdauer verfügen. Teil der Ausbildung der Mamos ist es zum Beispiel, über lange Zeit alleine, oder nur in Begleitung ihrer Lehrperson, in den obersten Teilen der Sierra zu leben.
Ohne jeglichen Komfort und mit einer stark eingeschränkten Diät stimmen sie ihre Körper und ihren Geist ganz auf die Berufung ein, die ihr Leben lang andauern wird.
Diese zum Teil geheimen und sehr komplexen Weltansichten mögen ja faszinierend sein, aber haben sie auch irgendeine Relevanz für die restliche Welt?
Ein besonderer Weg
Die Indianer der Sierra nennen sich selbst hermanos mayores, die „älteren Brüder“. Sie glauben daran, dass sie mystische Weisheit und Verständnis besitzen, die die anderer übersteigen (sie nennen andere hermanos menores, „kleinere Brüder“).
Die Arhuaco glauben, dass sie verantwortlich für die Balance auf der Welt sind: Der ganze Planet hängt ihnen zufolge davon ab, was in der Sierra Nevada geschieht. Sie regulieren Naturereignisse und verhindern Katastrophen mit einem komplexen System der „Zahlungen“ an die Erde. Wenn sie von einer Überschwemmung oder einem Erdbeben in einem fernen Land hören, glauben sie, es sei ein Resultat ihres eigenen Versagens, alles in Harmonie zu halten.
Auch die Hopi glauben, dass sie damit beauftragt wurden, eine einzigartige spirituelle Pflicht zu erfüllen: Hand in Hand mit der ganzen Schöpfung zu gehen, um Stabilität und Heilung auf der ganzen Welt zu erreichen. Sie sind überzeugt, dass sie und mit ihnen das Leben auf der ganzen Welt zerstört werden, sollten sie der Lethargie und Dekadenz verfallen.
Das Schicksal des Planeten liegt in ihren Händen und sie stehen, gemeinsam mit der ganzen Menschheit, an einer Kreuzung. Sie und wir müssen wählen zwischen Verantwortung und Egoismus, zwischen Sein und nicht Sein – eine höchst kritische Zeit, die den Hopi in der Vergangenheit durch ihre Gottheiten vorausgesagt wurde. Die Gefahr kann nur abgewendet werden wenn sie, oder zumindest einige von ihnen, ihrer Weisheit treu bleiben.
Antik und Modern
Die Religionen der Arhuaco und der Hopi sind komplexe, lebendige Systeme, die ständigem Wandel und Anpassung unterliegen; und ihre Denkenden haben eine Meinung von der Welt, die so durchdacht und angemessen ist, wie die von jedem und jeder anderen auch. Es ist eine häufige Fehlannahme, dass die Ansichten indigener Völker für Jahrhunderte oder Jahrtausende gleich geblieben sind. Sie selbst und ihre Erfahrungen sind genau deswegen relevant für die Menschen von heute, weil sie Gesellschaften im Hier und Jetzt sind, und nicht in Gläsern konservierte Museumsstücke. Beide, die Arhuaco und die Hopi, haben sich sehr erfolgreich an die tiefgreifenden Veränderungen angepasst, die sie seit der europäischen Invasion Amerikas zu bewältigen hatten. Das macht einen Teil dessen aus, was sie so relevant für die Zukunft macht. Sie zeigen, dass sogar kleine, augenscheinlich fragile Gesellschaften angesichts überwältigender Zerstörung überleben können.
Sie selbst fühlen, dass es lebensnotwendig ist, dass ihre Botschaft so bekannt wie möglich wird. Sie denken, dass sie die Wahlmöglichkeiten, die die Menschheit hat, beeinflussen können und sollten. Sie wissen auch, dass sie viele Freund*innen in der Außenwelt haben und dass eine wachsende Anzahl von Menschen menschliche Werte über ökonomische Werte stellen.
Verantwortung übernehmen
Die neue Umweltbewegung des Westens postuliert eine natürliche Welt, die von Menschen verdorben wurde. Das Ideal der Hopi und Arhuaco sieht anders aus: eine Welt, die durch die Menschen in Balance gehalten wird. Es geht ihnen nicht darum, den Konsum zu reduzieren; sie konsumieren ja schon nur minimal. Sie verurteilen auch nicht die Konsumenten, oder generell Menschen, als notwendigerweise „schuldig“. Diese Indigenen stellen den Menschen in den Mittelpunkt und die menschliche Gemeinschaft, ihre Gemeinschaft, bleibt für sie das Wichtigste. Gleichzeitig nehmen sie die Verantwortung an, die Welt und den Kosmos für all das zu „bezahlen“, das sie uns geben: Sie geben etwas zurück für jedem Atemzug, den wir uns nehmen.
Sie wissen, dass der Zyklus der Erde im engen Zusammenhang mit dem Leben und Sterben aller lebenden Wesen steht. Sie haben Glaubensvorstellungen, Regeln und Rituale ausgearbeitet, die ihr Leben mit ihrer Pflicht durchtränkt sicherzustellen, dass diese Zyklen ohne Störungen weitergehen. Obwohl sie diese Pflicht über lange Zeiträume als ihre ansehen, empfinden sie dies nicht als Belastung. Sie sehen es viel eher als die intelligenteste Form, Leben und Tod zu konfrontieren. Es ist nicht weniger und vielleicht nicht mehr, als auf einer sehr tiefgründigen Weise die Verantwortung für die weitreichenden und langfristigen Auswirkungen des eigenen Lebens zu übernehmen.
Vielleicht ist genau das die wirklich wichtige und herausfordernde Botschaft, die indigene Völker für die Welt haben. Vielleicht ist das mindestens genauso wichtig wie die Hoffnung, dass noch mehr Heilmittel und Medikamente in ihren Arzneibüchern gefunden werden, damit wir sie für uns selbst anwenden (und von ihnen stehlen?) können.
Während sich die industrialisierten Gesellschaften immer weiter auf einen egoistischen Individualismus zubewegen, wo alles – vom genetischen Bauplan des Lebens bis hin zu menschlichen Körperteilen – ein Preisschild bekommt, stellen die Arhuaco und Hopi eine wertvolle Erinnerung dar, dass wir Menschen andere Prioritäten und eine andere Art zu leben, wählen können.
Die Hopi leben im „reichsten“ Land der Welt, weniger als 400 Kilometer weg vom „Mekka“ der Dollar-Verehrung, Las Vegas. Dennoch haben viele von ihnen keinerlei Wunsch, Amerikaner zu werden. Ebenso begehren die meisten Indigenen der Sierra nicht den monetären Wohlstand, den sie in den Städten von Valledupar oder Santa Marta sehen können. Auch streben sie keineswegs nach der Art von Macht, für die ihre Regierung und die Guerillas sich gegenseitig umbringen.
Eine einfache Botschaft
Als Delegierte der Arhuaco 1993 unterstützt durch Survival International nach Europa reisten, um der Außenwelt zum ersten Mal ihre Lage zu schildern, bemühte sich ihr spiritueller Führer nicht einmal um ein Paar Schuhe für die gepflasterten Straßen von London und Madrid. Er wollte absolut keine der Güter, die in diesen Welthauptstädten im Angebot waren.
Trotz des Materialismus im Westen, trotz allem was Politiker*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen und Entwicklungsexpert*innen predigen, wird es auf der Welt immer Menschen geben, die nicht so wie sie sein wollen. Es wird immer diejenigen geben, die an einer anderen Art zu leben festhalten, deren Antworten auf die großen Fragen des Lebens und des Sterbens auf einem anderen Weg liegen. Es mag sein, dass die Botschaft dieser außergewöhnlich komplexen und hoch entwickelten Stammesgesellschaften wirklich so einfach und wichtig ist wie eben dies.
Aber es kann auch sein, dass diese indigenen Völker, indem sie einen Geist treu bleiben, der Menschen ins Zentrum stellt – was sehr eigennützig ist, aber zur gleichen Zeit den Rest der Welt als etwas betrachtet, für das sehr gut gesorgt werden muss – zeigen, dass unsere Fürsorge für die Erde („die Mutter“) das gleiche ist, wie die Fürsorge für andere („die kleinen Brüder“) und ultimativ die Fürsorge für uns selbst.
Das ist eine zeitlose Botschaft voll großer Schönheit, universeller Wichtigkeit und sicherlich unanfechtbarer Wahrheit.
„Die Art und Weise wie eine Nation eine andere behandelt, dient entweder der Stärkung oder der Zerstörung der spirituellen Grundlage für Frieden in der Welt.“
Hopi, 1983
Die Originalversion dieses Artikels erschien 1994 zum 25. Jubiläum von Survival International
Übersetzung ins Deutsche durch Manuela Essig.