Eine Insel der Hoffnung in einem Meer voller Soja

Sarah Shenker unterwegs mit Angehörigen der Guarani-Gemeinde aus Guaviry © Survival International

Sarah Shenker von Survival International besucht eine Guarani-Gemeinde unter Belagerung in Mato Grosso do Sul, Brasilien.


Drei Schüsse. Peng. Peng. Peng.

Die Nacht war rabenschwarz. Es war unmöglich zu wissen, wo die Bewaffneten waren.

„Sie schicken uns eine Nachricht,“ sagte Genito Guarani. „Sie beobachten jede unserer Bewegungen.“



Genito Guarani, ein Anführer der Guaviry-Gemeinde im Bundesstaat Mato Grosso do Sul im Süden Brasiliens. Das Land der Guarani wurde aus Profitgier gestohlen. Sie kämpfen mutig, um es zurückzubekommen. © Survival International


Wie jede*r andere in Guaviry weiß auch Genito, dass er zu seinem Land gehört, mehr als es jemals ihm gehören könnte. Seine Vorfahren sind hier begraben. Die Menschen hier kennen jede Flussbiegung und alle Höhen und Tiefen der Hügel. Seit Generationen sind sie abhängig von diesem Land, haben es geprägt, gepflegt und beschützt. Sie nennen es tekohá, das „Land ohne Übel“.



Dem Erdboden gleichgemacht; einst war dies ein üppiger Wald, inzwischen wurde das „Land ohne Übel“ der Guarani im Interesse privater Unternehmen zerstört. © Survival International


Als ihr tekohá gestohlen wurde, kamen auch die Schüsse. In den 50er- und 60er-Jahren drangen Fremde in das Land ein und Rancher*innen kolonialisierten es. Sie machten den Regenwald dem Erdboden gleich, um erst Platz für Vieh und später Soja, Mais und Zuckerrohr zu schaffen. Tausende Guarani müssen nun in überfüllten Reservaten und in behelfsmäßigen Lagern am Rande der Straße leben – Orte an denen die Raten für Unterernährung, Krankheiten, Alkoholismus und Selbstmord in den Himmel steigen und an denen die Anführer*innen der Guarani Ziel und Opfer der bewaffneten Einheiten der Rancher*innen sind. Diese Orte sind Schauplatz einer der drängendsten humanitären Krisen unserer Zeit.



Tausende Guarani leben übergangsweise in behelfsmäßigen Lagern. Sie erobern ihr Land zurück, Stück für Stück. © Survival International


Doch dieses Land ist Guarani-Land und die Verbindung zwischen den Menschen und dem Ort ist noch stark. Die Guarani wissen, wo sie die wenig verbliebenen Pflanzen für ihre Medizin sammeln können und sie kennen die versteckten Orte, an denen sie immer noch Tiere zum Jagen finden können, die sie brauchen, um ihre Familien zu ernähren. Unterbewusst wissen die Einwohner*innen von Guaviry, dass sie nur hier auf ihrem tekohá wirklich Guarani sein können.


Papito Guarani trägt eine für die Guarani typische Feder-Kopfbedeckung und Ketten aus Samen, die in dem kleinen Rest Wald gesammelt wurden, der auf dem Land noch überleben konnte. Das Musikinstrument nennt sich mbaraka und wird für Rituale, Zeremonien und zum Tanzen verwendet. © Survival International


„Wir brauchen unser Land, für unsere Familien und für unsere Zukunft, für unser Überleben als Volk,“ sagte Genito. „Unser Land ist heilig. Wir beuten es nicht aus oder verschmutzen es mit Pestiziden … Für uns bedeutet Land Leben. Land ist wie ein menschliches Wesen.“


Die Fische sterben durch Pestizide bevor sie groß genug sind, um gegessen zu werden. Die Guarani leiden unter alarmierend hohen Raten von Unterernährung, da die Farmer*innen sie von ihrem Land vertreiben und ihr Wasser vergiften. © Sarah Shenker


Das Unrecht ist beiden widerfahren; den Menschen und dem Land. Nach brasilianischem Recht hätte die Regierung das Land der Guarani schon vor Jahrzehnten demarkieren und beschützen sollen. Doch das Verfahren steht nun still. Politiker*innen in mächtigen Positionen und die anti-indigene Agrarlobby im Kongress versuchen es ganz einzustellen, indem sie eine Reihe von Gesetzesentwürfen und Verfassungsänderungen fordern.

„Inzwischen versuchen sie uns mit ihren Waffen und dem Gesetz zu töten,“ warnte Genito.



Privat angeheuerte, bewaffnete Sicherheitsmänner schießen im Auftrag von Farmer*innen auf die Guarani. Für die Kinder aus Guaviry gehört Gewalt zum täglichen Leben. © Aty Guasu/Survival


Genito ist froh am Leben zu sein. Ihm wurde schon mehrmals mit dem Tode gedroht. Viele seiner Verwandten wurden von den bewaffneten Söldnern der Rancher*innen ermordet. Sein Vater, Nísio Gomes, wurde getötet, nachdem er 2011 mehrere Familien aus Guaviry zurück auf ihr kleines Stück Land geführt hatte. Diese Familien sind seitdem in ständiger Alarmbereitschaft.



Bruder und Schwester halten sich gegenseitig. Zwei ihrer Familienmitglieder wurden in dem Kampf um ihr Land getötet, bei welchem dieses Foto auch aufgenommen wurde. © Survival


Die Kinder aus Guaviry sahen Kugeln an sich vorbeifliegen. Einige von ihnen wurden gewarnt, ihre Identität zu verstecken, da auch sie von den Schützen ins Visier genommen werden. Wenn sie zu der nahegelegenen Schule reisen, sind sie Rassismus und Quälereien ausgesetzt. Guaviry ist eine Gemeinde unter Belagerung, die mutig für das Land kämpft, welches immer noch ihr Leben ist.



Diese Zeichnung eines Guarani-Kindes zeigt einen Bewaffneten, wie er ein Mitglied der Guarani-Gemeinde tötet © Anon/Survival

 

Jonara, Genitos Nichte, sagte: „Wir Guarani Kinder und Teenager kämpfen für unser heiliges Land. Es ist traurig, dass die Farmer unseren Wald und unsere Tiere zerstören und uns leiden lassen. Die Farmer und ihre bewaffneten Wächter machen, was immer sie möchten. Sie töten uns und verschwinden. Jeden Tag nehmen wir unsere Eltern in die Arme, weil wir nicht wissen, wann sie uns töten werden. Warum tun sie uns das an? Wir indigenen Völker waren die ersten, die hier in Brasilien gelebt haben.“



In diesem Video, Teil des Tribal Voice Projekts von Survival, erzählt Jonara von der Gewalt, der ihre Gemeinde ausgesetzt ist. Sie ruft die Zuhörer*innen dazu auf, für die Rechte der Guarani einzutreten und die gefährliche, anti-indigene Gesetzesänderung PEC 215, die gerade in Brasilien vorgeschlagen wird, abzulehnen.

Doch dieses Brasilien verschwindet langsam. Unter tobendem Applaus versprach der Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro, dass „es keinen Zentimeter indigenes Land mehr geben werde“, falls er der nächste Präsident werde. Mit den nationalen Wahlen im Oktober 2018 im Rücken verstärken sich die schon sehr starken Spannungen und werden mehr und mehr gewalttätig. Viele der Farmer*innen, die das Land der Guarani besetzen, haben enge Verbindungen zum Staat und Politiker*innen, manche der Farmer*innen sind sogar selbst Politiker*innen.



Farmer*innen streifen ungestraft durch das gestohlene Land. Sie haben Freunde in hohen Positionen. © Survival

 

„Die Wiederbesetzung ist der einzige Weg nach vorne für uns“, sagte Genito. „Also sind wir hierhin zurückgekehrt. Die Farmer schicken Dutzende Bewaffnete, um uns zu belagern und uns anzugreifen, Tag und Nacht, seit 80 Tagen und 80 Nächten. Kugeln flogen nach links, rechts und in der Mitte. Wir haben nicht nachgegeben. Wir werden nicht nachgeben.“



Trotz alldem, was sie durchleben mussten, kämpfen die Guarani leidenschaftlich für ihr Land und das Überleben ihres Volkes. © Survival

 

Die Guarani wissen es besser. Sie warten nicht darauf, dass die Regierung endlich in Aktion tritt. Vor kurzer Zeit kam Genitos Familie zurück auf einen Teil ihres Landes, der ihnen heilig ist und übernahm Teile der Ranch dort, einschließlich des Hauses des Farmers und ein paar Schuppen. Sie fühlen sich stärker und stärker, hier, auf ihrem Land. Ihr Selbstbewusstsein, ihre Zuversicht und ihre Zugehörigkeit verstärken sich mit jedem Hektar, den sie wieder unter ihre Kontrolle bringen. Sie sehnen sich danach ihr gesamtes tekohá wiederzuerlangen, ihr „Land ohne Übel“.



Bei einem Treffen der Gemeinde liest ein Guarani-Mann einen Flyer von Survival International, der globalen Bewegung für indigene Völker. Survival arbeitet seit den 70er-Jahren für die Guarani. © Survival International

 

Survival International arbeitet schon seit Jahrzehnten mit den Guarani und führt den globalen Kampf gegen ihre Verfolger und ihre Bemühungen, auf ihr Land zurückzukehren, an. „Wir brauchen internationale Hilfe,“ sagte Genito. „Survival verteidigt unser Leben und mit Survivals Unterstützung werden wir weiterhin überleben. Wir beten, dass unsere Unterstützer*innen auf der ganzen Welt stark bleiben und weiterhin mit uns kämpfen, so lange der Kampf dauern wird.“
In Guaviry, dem wiederbesetzten Land, findet sich inzwischen ein Gebetshaus und ein Versammlungsort für die Gemeinde, an welchem sie sich nachts treffen, um mit ihren Göttern zu kommunizierten, zu tanzen und zu singen, damit sie ihren Widerstand weiterhin aufrecht erhalten zu können.



Kinder spielen bei Sonnenuntergang. In dieser schwierigen und von Gewalt geprägten Zeit zeigt die Gemeinschaft eine erstaunlich hohe Widerstandsfähigkeit. © Survival International

 

„Wir freuen uns, dass du gekommen bist“, singen die Kinder, während wir uns nach Art des traditionellen guaxiré-Tanzes im Kreis bewegen. Die lebendigen Stimmen der Kinder klingen vor dem Hintergrund der stillen, dunklen Nacht noch lauter.

Drei Schüsse. Peng, peng, peng.

Ein paar Sekunden Stille, dann singen die Kinder weiter. „Eines Tages werden wir in Frieden auf unserem Land leben,“ erzählte mir Genito. „Es ist hart. Auf unserem Weg dahin werden wir ermordet. Aber wenn unsere Anführer*innen getötet werden, dann werden unsere Familien weiterkämpfen … Wir werden nicht aufgeben, bis wir unser Land wiederhaben.“

Die globale Bewegung für indigene Völker wächst, du kannst dich uns jetzt anschließen.

Die Originalversion dieses Artikels erschien am 28. Juni 2018 auf National Geographic Blog. Übersetzung ins Deutsche durch Luise Schurian.

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