Weltweit leben heute hunderttausende indigene Kinder in kulturzerstörenden Internaten
Die Internate bedrohen nicht nur Leben und zerstören Identitäten, sie verwehren Kindern auch das Recht, sich für eine indigene Zukunft zu entscheiden.
Am 30. September feiern Gemeinden in ganz Kanada den „Orange Shirt Day“, den „Tag des orangenen T-Shirts“. Die jährliche Veranstaltung dient den Kanadier*innen dazu, den Tausenden in Internaten verstorbenen indigenen Kinder zu gedenken und über das generationenübergreifende Trauma zu reflektieren, welches das Internatssystem der Residential Schools hervorrief. Ähnliche Schulsysteme wurden auch in den Vereinigten Staaten, in Neuseeland und in Australien betrieben, mit schlimmen Folgen für indigene Kinder und für ihre Gemeinden.
Phyllis Jack Webstad, Älteste der Stswecem’c Xgat’tem First Nation, rief den Orange Shirt Day im Jahr 2013 ins leben, nachdem sie ihre Kindheitserfahrungen im Internat St. Joseph’s Mission in William’s Lake, British Columbia, öffentlich gemacht hatte.
Angestellte des Internats nahmen ihr an dem Tag, an dem sie von ihrer Familie weggeholt wurde, ihr orangenes Lieblings-T-Shirt weg. Die Internatsüberlebende Vivian Timmins sagte dazu: „[Dieses T-Shirt] haben alle indigenen Internatsüberlebende miteinander gemeinsam, denn unsere persönlichen Gegenstände wurden uns weggenommen. Es handelte sich dabei um eine Taktik, um unsere persönliche Identität auszulöschen. Es mag nur ein Kleidungsstück gewesen sein, aber es stand für unsere Erinnerung, die uns mit unseren Familien verband. Heute ist eine Zeit, in der wir die Kinder und Jugendlichen ehren, die es nicht mehr nach Hause geschafft haben. Es ist eine Zeit der Erinnerung an die dunkle Geschichte Kanadas, um aufzuklären und sicherzustellen, dass sich eine solche Geschichte niemals wiederholt.“
Beunruhigenderweise wiederholt sich die Geschichte jedoch in vielen Teilen der Welt. Nach Schätzungen von Survival International besuchen in Asien, Afrika und Südamerika nahezu eine Million indigene Kinder Einrichtungen, die eine auffällige Ähnlichkeit mit Kanadas Residential Schools aufweisen.
Ein schreckliches Vermächtnis hat überlebt
Das schreckliche Vermächtnis der Internate wiederholt sich heute in enormen Ausmaßen, weil die dem kanadischen Internatssystem zugrunde liegenden Haltungen und Absichten weiterhin fortbestehen.
Auf der ganzen Welt besuchen indigene Kinder, getrennt von ihren Familien, Schulen, die sie ihrer Identität berauben und ihnen oft fremde Namen, Religionen und Sprachen aufzwingen.
Die Fäden im Hintergrund dieser Institutionen werden häufig von der Rohstoffindustrie und fundamentalen religiösen Organisationen gezogen.
Ein Mega-Internat in Indien, das damit prahlt, für 27.000 indigene Kinder ein „Zuhause“ zu sein, wirbt damit, „primitive“ indigene Kinder von einer „Bürde in einen Gewinn“ und von „Steuerempfängern in Steuerzahler“ umzuwandeln. Zu den Partnern des Internats gehören die gleichen Bergbauunternehmen, die versuchen, die indigenen Gebiete an sich zu reißen, die diese Kinder tatsächlich ihr Zuhause nennen.
Eltern haben diese Schule als „Hühnerfarm“ beschrieben, auf der sich Kinder wie „Häftlinge“ fühlen.
Ein Experte für indigene Bildung in Indien sagte uns mit: „Ihr ganzes Denken wurde einer Gehirnwäsche unterzogen durch eine Bildung, die vermittelt, ‚Bergbau ist gut‘, ‚Konsum ist gut‘, ‚Deine Kultur ist schlecht‘. Internate für Indigene sind Institutionen, die die Autobiografie eines jeden Kindes auslöschen, um sie mit dem zu ersetzen, was dem ‚Mainstream‘ entspricht. Ist das nicht ein Verbrechen im Namen des Schulwesens?“.
Ändert sich nicht schnell etwas, könnten zahlreiche indigene Völker innerhalb nur weniger Generationen ausgelöscht sein, denn den Jugendlichen in diesen Schulen wird beigebracht ihre Familien und Traditionen als „primitiv“, „rückständig“ und gegenüber der „Mainstream“-Gesellschaft als „minderwertig“ anzusehen. Sie sollen ihrer Sprache, ihrer Religion und ihrem Land den Rücken kehren.
Überlebende der Internate Kanadas beginnen damit, sich öffentlich gegen diese kulturzerstörenden Institutionen auszusprechen.
„Was gerade in diesen Internaten in Indien und anderswo passiert, hat große Ähnlichkeit mit dem, was in den Internaten in Kanada passiert ist“, sagt Roberta Hill.
Roberta Hill ist eine Überlebende des Mohawk-Instituts in Brantford, Kanada, wo sie vom Pfarrer und Angestellten des Internats in den 1950ern und -60ern missbraucht wurde. Sie sieht starke Parallelen zwischen ihren Erfahrungen und den Erlebnissen indigener Kinder in den modernen, kulturzerstörenden Internaten: „Was gerade in diesen Internaten in Indien und anderswo passiert, hat große Ähnlichkeit mit dem, was in den Internaten in Kanada passiert ist – die Trennung indigener Kinder von ihrer Familie, ihrer Sprache und ihrer Kultur hat eine sehr zerstörerische Wirkung. Meine Erlebnisse im Internat waren traumatisierend. Ich wurde meiner Familie im Alter von sechs Jahren weggenommen und in das Internat gesteckt, wo ich sehr viel Missbrauch und Isolation erfahren habe. Wenn das jetzt wieder passiert, erfordert das internationale Aufmerksamkeit. Es muss aufhören, sonst machen sie das Gleiche durch, was wir durchgemacht haben. Die Schäden werden irreparabel sein – nicht nur für die indigenen Kinder, die das Internat besuchen, sondern auch für die zukünftigen Generationen der betroffenen Gemeinden.“
RG Miller, ein bekannter indigener Künstler aus Kanada, erzählt: „Meine schrecklichen Erfahrungen im Internat für Indigene haben meine Verbindung zu Gemeinschaft, zu Familie und zu meiner Kultur zerbrochen. Den Missbrauch, den ich dort erlitten habe, hat jedes Gefühl von Vertrauen oder Intimität zu irgendjemandem oder zu irgendetwas für den Rest meines Lebens komplett zerstört – auch zu Gott, zu Ehepartnern und zu Kindern.“
Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte haben Tausende Internatsüberlebende ihre Missbrauchserfahrungen öffentlich gemacht. Es gibt jedoch tausende weitere Kinder, die ihre eigene Geschichte nie werden erzählen können, denn sie verstarben während ihrer Zeit im Internat. Wieder andere Kinder, so etwa Chanie Wenjack, starben beim Versuch zu fliehen. Der kleine Anishinabe-Junge riss beim verzweifelten Versuch, sein Zuhause in 600 Kilometern Entfernung zu erreichen, aus seinem Internat in Ontario aus. Er starb 1966 im Alter von zwölf Jahren an Hunger und Kälte.
Ein halbes Jahrhundert später – in rund 12.000 Kilometern Entfernung – flohen Norieen Yaakob, ihr Bruder Haikal und fünf ihrer Freunde aus ihrem Internat in Malaysia. Die Kinder, die zu den Temiar, einem der Orang-Asli-Völker Zentralmalaysias, gehören, liefen davon, um der Prügel durch einen Lehrer zu entgehen. 47 Tage später wurden Norieen und ein weiteres kleines Mädchen gefunden – hungernd, aber am Leben. Die anderen fünf Kinder starben, darunter Haikal und die siebenjährige Juvina.
Juvinas Vater David berichtete uns: „Die Polizei sagte: ‚Warum belästigen Sie uns mit diesem Problem?‘. Wir hatten keine Hoffnung. Erst am sechsten Tag begannen die Behörden ihre Rettungsaktion und suchten nach den Kindern. Uns Eltern sagten sie jedoch, dass wir zu Hause bleiben sollten. Sie sagten, wenn wir mitkämen, würden wir das nur tun, um den vermissten Kindern, die sich angeblich versteckten, heimlich Nahrung zu geben. Sie beschuldigten uns, den ganzen Vorfall vorzutäuschen, um Aufmerksamkeit zu erlangen und die Regierung dazu zu zwingen, uns mehr zu helfen. Das war, was sie von uns dachten… [Am Ende] fanden sie einen Kinderschädel. Wir konnten nicht sofort identifizieren, um wessen Kind es sich handelte. Wir mussten auf die Obduktion warten. Ich erkannte mein eigenes Kind nicht wieder.“ Die Familien bringen die Behörden derzeit vor Gericht in einem Fall, den die Welt im Auge behalten sollte.
Die schreckliche Wahrheit ist, dass indigene Kinder in diesen Internaten sterben. Im indischen Bundesstaat Maharashtra wurden seit dem Jahr 2000 über 1.000 Todesfälle in Internaten für Indigene aufgezeichnet, darunter zahlreiche Selbstmorde. Ähnlich wie bei den erlebten Traumata in Kanada erfahren viele Eltern nichts davon, dass ihre Kinder krank sind – bis es zu spät ist. Oft erfahren sie auch nicht die Todesursache.
Zudem gibt es eine beängstigende Anzahl von Fällen körperlichen und sexuellen Missbrauchs, von denen nur sehr wenige die Justiz erreichen. Staatliche Schulen in Asien und Afrika sind oft mit Lehrpersonal ohne Verbindung zu und ohne Respekt für die Gemeinden, für die sie arbeiten sollen, ausgestattet. Oft herrscht ein Mangel an Lehrpersonal und Missbrauch wird ignoriert oder nicht gemeldet. Das Potenzial für verheerende Schäden ist extrem hoch.
Survival International wird bald seine Arbeit gegen diese kulturzerstörenden Internate starten und eine stärkere Kontrolle Indigener über ihre Bildung einfordern, bevor es für diese Kinder, ihre Gemeinden und ihre Zukunft zu spät ist.
Das ist auch dringend nötig. Die Internate bedrohen nicht nur Leben und zerstören Identitäten, sie verwehren Kindern auch das Recht, sich für eine indigene Zukunft zu entscheiden.
Die Fähigkeit indigener Völker, gut und nachhaltig auf ihrem Land zu leben, hängt ab von ihrem umfangreichen Wissen über ihre Umwelt, das sich über Generationen hinweg ansammelt und ein ganzes Leben lang erlernt wird. In der Kalahariwüste zu leben oder Rentiere über die arktische Tundra zu treiben, kann nicht in Internaten oder während gelegentlicher Schulferien gelernt werden.
Hinzu kommt, dass indigene Völker in Zeiten der schweren Umweltzerstörung, des Klimawandels und des Artensterbens eine entscheidende Rolle beim Schutz der globalen Ökosysteme spielen. Sie sind die besten Wächter ihres Landes und sie sollten, wenn wir auf das Überleben zukünftiger Generationen hoffen, respektiert und angehört werden.
Statt ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, ihre Sprachen und ihre Weisheit durch kulturzerstörende Internate auszulöschen, müssen wir dafür eintreten, dass sie ihre Geschicke als Hüter und Schützer ihres Landes selbst in die Hand nehmen können.
Dr. Jo Woodman leitet Survival Internationals neue Kampagne zu indigener Bildung. Sie bringt Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Forschungs- und Kampagnenarbeit rund um die Rechte indigener Völker mit. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Auswirkungen erzwungenen „Fortschritts“, des Naturschutzes und des Bildungswesens auf indigene Gemeinden.
Alicia Krömer machte ihren PhD in Politikwissenschaft an der Universität Wien, wo sie über kollektive Erinnerungen und Internate (Residential Schools) in Kanada forschte. Sie veröffentlichte hierzu unter anderem Artikel, Filme und hielt Vorträge. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins Incomindios mit Sitz in Zürich, wo sie über Menschenrechte aufklärt und als UN-Beauftragte tätig ist. Sie arbeitet zudem als wissenschaftliche Beraterin für Minority Rights Group und Suvival International in London. Sie interessiert sich für Bündnisbildung und für die Verteidigung und die Förderung von Menschenrechten mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Rechten indigener Völker weltweit.
Dieser Artikel erschien am 28. September 2018 auf Intercontinental Cry