Offener Brief an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel: Das 30x30-Ziel - Eine Katastrophe für indigene Völker und die Biodiversität

6 April 2021

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf dem One Planet Summit. © Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Diese Seite wurde 2021 erstellt und enthält möglicherweise Formulierungen, die wir heute nicht mehr verwenden würden.

In einem offenen Brief an die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel argumentiert Survival International, dass der Kampf gegen den Verlust der Artenvielfalt nicht auf Kosten von indigenen Völkern geführt werden darf. Stattdessen müssen indigene Völker – die besten Hüter der Natur – eine zentrale Rolle beim Erhalt der weltweiten Biodiversität und dem Schutz gesunder Ökosysteme einnehmen.

Der Plan, 30% des Planeten bis 2030 in „Schutzgebiete“ umzuwandeln, der auf dem Gipfeltreffen der Biodiversitätskonvention (CBD-COP15) beschlossen werden soll, ist eine große grüne Lüge: Er würde das Leben von etwa 300 Millionen Menschen zerstören und den Planeten nicht retten. Deshalb appelliert Survival an die deutsche Bundeskanzlerin diesen Plan nicht zu unterstützen und ihre politische Position zu nutzen, um sich für die Rechte indigener Völker einzusetzen.

Offener Brief an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Das 30×30-Ziel: Eine Katastrophe für indigene Völker und die Biodiversität

Berlin, 6. April 2021

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,

der Plan, 30% des Planeten in „Schutzgebiete“ umzuwandeln, wird auf dem IUCN-Kongress im September diskutiert und soll auf dem Gipfeltreffen der Biodiversitätskonvention (CBD-COP15) beschlossen werden.

Sie erklärten kürzlich, dass auch Deutschland sich der „High Ambition Coalition for Nature and People“ anschließe und sich dafür einsetze, weltweit 30% der Land- und Meeresflächen in Schutzgebiete umzuwandeln.

Das Ziel wurde als eine der zentralen Maßnahmen zur Eindämmung des Verlusts der biologischen Vielfalt und zur Bekämpfung der Klimakrise dargestellt. Die Umsetzung des Vorhabens wäre jedoch ein großer Fehler mit weitreichenden Folgen. Anstatt ein Patentrezept zu sein, führen Schutzgebiete zu schweren Menschenrechtsverletzungen an indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften. Nichts deutet darauf hin, dass sich dies in Zukunft ändern wird.

Die Einrichtung von Schutzgebieten, speziell in Afrika und Asien, folgt einem kolonialen Modell, das als „Festungsnaturschutz“ bekannt ist und auf Landraub basiert. Angehörige indigener Völker, die in diesen Gebieten leben, werden von Rangern – die von großen Naturschutzorganisationen unterstützt und finanziert werden – vertrieben, geschlagen, gefoltert, vergewaltigt und getötet. Die Ausweitung dieses Ansatzes, nur um das 30%-Ziel zu erreichen, würde das Leben von mehr als 300 Millionen Menschen bedrohendrive, darunter auch die gefährdetsten und am nachhaltigsten lebenden Gesellschaften unseres Planeten.

Darüber hinaus bewahren Naturschutzgebiete die Artenvielfalt nicht, sondern schaden ihr. 80% der weltweiten Biodiversität befinden sich in indigenen Gebieten. Indigene Völker nehmen also eine entscheidende Rolle beim Erhalt dieser Vielfalt und dem Schutz gesunder Ökosysteme ein. Wenn ihre Landrechte gesichert und respektiert werden, sind sie durch ihr Wissen und ihre Lebensweise die besten Hüter der Natur. Die wissenschaftlichen Beweise dafür sind überwältigend. Der aktuell diskutierte Plan zur Ausweitung von Schutzgebieten beinhaltet jedoch keine Schutzklauseln für indigene Völker oder lokale Gemeinschaften. Wir fordern, dass ihr Recht auf Land, Ressourcen und Selbstbestimmung sowie ihr Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung bei Projekten, die ihr Land betreffen, garantiert und respektiert wird._

Die Missachtung dieser Rechte verstößt gegen UN-Normen und internationales Recht. Gerade im Hinblick auf die bevorstehende Ratifizierung der ILO-169 durch Deutschland, wäre dies mehr als ein Schlag ins Gesicht für indigene Völker und lokale Gemeinschaften. Deshalb fordern wir Sie mit Nachdruck auf, diesen kolonialen, rassistischen, menschenfeindlichen und ökologisch höchst fragwürdigen Ansatz aufzugeben. Es ist entscheidend, dass Sie Ihre politische Position nutzen, um sicherzustellen, dass die Rechte indigener Völker respektiert werden, zusammen mit starken, durchsetzbaren Garantien. Das Leben von Hunderten von Millionen von Menschen steht auf dem Spiel.

Indigene Völker sind die besten Naturschützer und die Wahrung ihrer Rechte muss das zentrale Instrument zum Schutz der Natur und der biologischen Vielfalt sein. Für indigene Völker, für die Natur und für die ganze Menschheit.

Hochachtungsvoll,

Linda Poppe
Koordinatorin, Survival International Deutschland

Angehörige der Jenu Kuruba protestieren in Indien gegen illegale Vertreibungen im Namen des „Naturschutzes“. © Survival

Hinweise an die Redaktion:

- Survival International hat gemeinsam mit anderen NGOs und Expert*innen einen Brief an das CBD-Sekretariat verfasst, in welchem davor gewarnt wird, dass bis zu 300 Millionen Menschen betroffen sein könnten, wenn die Rechte indigener Völker, traditioneller Landbesitzer*innen und lokaler Umwelthüter*innen nicht wesentlich besser geschützt werden.

- Vor gut zwei Jahren veröffentlichte Buzzfeed News eine Reihe von Untersuchungen mit dem Titel „Der geheime Krieg des WWF“. Sie offenbarten Menschenrechtsverletzungen, die in Naturschutzgebieten von Ranger begangen wurden, die der WWF finanziert und ausbildet.

- Ende letzten Jahres organisierten Abgeordnete des Europäischen Parlaments eine einzigartige Konferenz mit dem Titel: „What’s in the EU Biodiversity Strategy for Indigenous Peoples and local communities?“. Sie bot Angehörigen indigener Völker und lokalen Aktivist*innen erstmals die Möglichkeit, europäischen Politiker*innen direkt mitzuteilen, wie sie Naturschutz und Biodiversitätserhalt erleben. Die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier.

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