Das kriegerische Volk?

Yanomami, Demini, Brasilien. © Fiona Watson/Survival

Der Mythos des “brutalen Wilden”

Die Darstellung indigener Völker als gewalttätige Wilde bleibt verbreitet. Das vielleicht schlimmste aktuelle Beispiel dieser Charakterisierung stammt von dem umstrittenen US-Anthropologen Napoleon Chagnon, der in den 1960ern Feldarbeit bei den Yanomami-Indianern in Venezuela betrieb.

In seinem Buch Yanomamö: The Fierce People [Yanomamö: Das kriegerische Volk], gestaltete Chagnon ein sensationsgieriges Bild des indigenen Volkes und beschrieb sie als “listig, aggressiv und furchterregend”, “kriegerisch”, “untereinander fortlaufend am Krieg stiftend” und in einem Zustand "chronischer Kriegsführung” lebend.

The Fierce People war in der USA ein Bestseller und ist heute immer noch einen Standardtext für Anthropologie-Studenten. Das Buch ist auch eine Hauptquelle in vielen aktuellen populärwissenschaftlichen Büchern von Autoren wie Jared Diamond und Steven Pinker, die ebenfalls den Mythos des “brutalen Wilden” fördern.

Kontroverse

Trotz der Popularität seines Buches The Fierce People, wurden Chagnons Studien von anderen, die große Erfahrung mit den Yanomami haben, scharf kritisiert. Viele Anthropologen, Ärzte und Missionare, die Jahrzehnte mit den Yanomami gearbeitet haben, erkennen Chagnons Darstellung nicht an und stimmen mit seiner Schilderung des indigenen Volkes keineswegs überein.

Am 19. Februar 2013 veröffentlichte Chagnon seine Autobiographie My Life Among Two Dangerous Tribes – The Yanomamö and the Anthopologists [Edle Wilde: Mein Leben unter zwei gefährlichen Völkern – die Yanomamö und die Anthropologen].

Eine Anzahl von Anthropologie-Experten hat einen offenen Brief unterschrieben, der Chagnons Darstellung der Yanomami kritisiert.

Der bedeutende Anthropologe Marshall Sahlins erklärt, wie Chagnon die Yanomami ausgebeutet hat, um sein Ziel zu erreichen. Sahlins ist kürzlich aus Protest aus der US National Academy of Sciences ausgetreten, nachdem Chagnon in die angesehene Institution gewählt wurde.

Der führende brasilianische Anthropologie-Professor Eduardo Viveiros de Castro sagt, dass die Yanomami nicht die bösen, gefühllosen, soziobiologischen Roboter sind, die Chagnon beschreibt.

Auch Philippe Descola und Manuela Carneiro da Cunha haben sich zu Chagnons Arbeit geäußert.

2001 schrieben verschiedene Experten dem Daily Telegraph, um gegen einen Artikel zu protestieren, der Chagnons Ansichten übernommen hatte.

Carlo Zacquini, ein katholischer Missionar, der rund 50 Jahre mit den Yanomami gelebt und gearbeitet hat, hat “sie nie als gewalttätig” empfunden.

Die Yanomami wehren sich

Lesen Sie hier, was Davi Kopenawa, ein Yanomami-Sprecher und Präsident der Yanomami-Organisation Hutukara, in einem Interview mit Survival über The Fierce People und Noble Savages sagte.

In einem Ausschnitt des Buches La chute du ciel: Paroles d’un chaman yanomami, von Davi Kopenawa und Bruce Albert, bespricht er die Gewalt westlicher Gesellschaften.

Während einige Yanomami in Konflikten sterben, wird eine weit größere Anzahl bei gewaltsamen Angriffen von Außenstehenden oder durch die von ihnen eingeschleppten Krankheiten getötet.

Zwischen 1989 und 1993 sind geschätzte 20 Prozent der Yanomami in Brasilien an Krankheiten gestorben, die Goldschürfer in die Region gebracht haben. Diese Eindringlinge stellen noch immer ein großes Risiko für die Sicherheit und Gesundheit der Yanomami dar. Davi Kopenawa warnt:

Heute sind unsere wahren Feinde die Goldschürfer, Viehzüchter und Farmer sowie all jene, die unser Land an sich reißen wollen. Unsere Wut muss sich gegen sie richten. Das ist, was ich glaube.

Davi Yanomami bei der Hutukara Generalversammlung 2008. © Luciano Padrão/CAFOD

Konsequenzen

Die größte Tragödie daran ist, dass die echten Yanomami aus all dem größtenteils herausgeschrieben wurden, weil die Medien sich nur mit den schlüpfrigen Details der Debatte zwischen Anthropologen oder mit Chagnons umstrittener Charakterisierung beschäftigen. Es wird kaum davon gesprochen, welche desaströsen Folgen The Fierce People für die Yanomami und indigene Völker allgemein hatte.

Lesen Sie, wie die ehemalige brasilianische Militärregierung von der Charakterisierung der Yanomami als untereinander feindlich beeinflusst wurde.

Lesen Sie, warum die britische Regierung ein Bildungsprojekt mit den Yanomami ablehnte.

Zuletzt wurde Chagnons Arbeit von Jared Diamond in seinem kontroversen neuen Buch Vermächtnis genutzt, um seine fehlerhafte Behauptung, dass die meisten “traditionellen Gesellschaften” wie die Yanomami in einem Zustand “chronischer Kriegsführung” existieren, dass sie viel gewaltbereiter sind als industrialisierte Gesellschaften, und dass sie die “Befriedung” durch den Staat willkommen heißen.

Diamonds Buch wurde von Survivals Direktor Stephen Corry und Wissenschaftlern heftig kritisiert. Diamonds Argumentation wurde mit der europäischer Kolonialisten verglichen, die eine Rechtfertigung für die Gewalt des Imperialismus benötigten.

Weitere Informationen

Besuchen Sie den Blog Anthropology Report für eine umfassende Übersicht darüber, was Anthropologen über Noble Savages sagen.

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