Die große grüne Lüge

Der WWF hat vor kurzem (5. Juni 2020) ein kurzes Video1 mit dem britischen „Nationalhelden" und Naturschützer Sir David Attenborough veröffentlicht, in dem er uns weismachen will, dass „plötzlich" die Rettung der Welt in greifbarer Nähe ist. Er behauptet, dass sie wissen, was zu tun ist. Sie haben angeblich einen Plan, um eine stabile, gesunde Welt aufzubauen, von der wir für immer profitieren können. Was gibt es da zu meckern? Nun ja, eine ganze Menge! Der Plan des WWF greift eine rassistische Annahme aus dem 19. Jahrhundert wieder auf: Dass zu viele Menschen, von der falschen Sorte, uns alle bedrohen.

Der “Plan” umfasst vier Gebote: 1) „Stoppt die schädlichen Dinge“; 2) „Neue grüne Technologien“; 3) Reduziert die Bevölkerung und 4) Bewahrt den „natürlichen Reichtum, den wir zur Zeit haben“.2

Beginnen wir damit, die beiden offensichtlich richtigen Punkte, das erste und letzte Gebot, auszuklammern. Beide Ansätze – das Zufügen von weiteren Schäden zu beenden und die Erhaltung des bestehenden Reichtums sicherzustellen – sind Selbstverständlichkeiten für so ziemlich jeden Plan. Was dann übrig bleibt sind nur zwei konkrete Antworten auf die Probleme des Planeten – neue grüne Technologien und die Reduzierung der Bevölkerung.

Was ist die zugrunde liegende Botschaft in der ersten Antwort: Wir können so weitermachen wie bisher, wenn wir einfach nur die Energiequelle wechseln? Wir tauschen Öl und Kohle gegen Wind und Sonne – und schon ist die Welt gerettet? Moment mal, was ist mit dem ökologischen Fußabdruck dieser Maßnahmen und der Sklaven- und Kinderarbeit, die beim Bau dieser „neuen grünen Technologien“ eingesetzt wird. Was ist beispielsweise mit den kleinen Kindern, die im Kongo nach Kobalt3 graben? Wie sieht es aus mit der sich weiter öffnenden Einkommensschere, die den massiven Überkonsum der Elite ermöglicht? Wenn das berühmteste Opernhaus der Welt in Mailand vor einem ausverkauften Haus der reichsten Menschen der Welt spielen würde, würden fast zwei Drittel des gesamten Geldes, das alle Menschen zusammen auf diesem Planeten besitzen, in diesem Haus versammelt sein.4 Könnte dieses verblüffende Detail von Bedeutung sein? Was ist mit der Tatsache, dass durchschnittliche US-Amerikaner*innen – abgesehen von wohlhabenden WWF-Manager*innen – in etwas mehr als einer Woche ungefähr dieselbe Menge an Ressourcen verbraucht wie ein*e Afrikaner*in aus dem subsaharischen Afrika in einem Jahr oder genauso viel Energie wie ein*e Südsudanes*in in zwei Jahren?5 Wer ist wirklich für „die schädlichen Dinge“ verantwortlich? Schließlich gibt es Hunderte von Millionen Menschen auf der Welt, die in Armut leben (und sterben) und die für praktisch keine Verschmutzung verantwortlich sind. 

Ja, es ist unerlässlich mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe aufzuhören, aber der Planet wird nicht allein dadurch gerettet werden, dass man Öl gegen erneuerbare Energien tauscht! Geht es bei dem Boom um „neue Technologien“ nicht vielleicht auch darum, der Elite zu ermöglichen, durch das Investment in „grüne“ Unternehmen, weiterhin viel Geld zu verdienen?

Aber es ist die andere „Lösung" – die Bevölkerung zu reduzieren – bei der sowohl Attenborough als auch der WWF ihre elitäre Ideologie offenbaren. Man kann sich die Besprechungen von Autor*innen vorstellen, die darum gerungen haben, diese Weltanschauung in Worte zu fassen, ohne sich angreifbar zu machen. Wie lassen sich Menschen wie ich zufrieden stellen, die den 200 Jahre alten Aufschrei der „Überbevölkerung" für ideologisch, grundlegend rassistisch und zweifellos eugenisch halten, da er nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat. 

Die Autor*innen einigten sich schließlich auf folgende Formulierung: „die menschliche Bevölkerung so niedrig zu stabilisieren, wie es uns fairerweise möglich ist". Vermutlich dachten sie, dass die Verwendung von „stabilisieren" anstelle von „reduzieren" (was sie eigentlich meinen) und die Verwendung von „fair" die Kritiker zufrieden stellen würde. Das zeigt deutlich, dass sie kaum verstehen, was die Probleme bei ihrem „Überbevölkerung“-Aufschrei tatsächlich sind!

Die unbequeme Wahrheit, die von den Protagonist*innen nie erwähnt wird, ist, dass die Bevölkerung des globalen Nordens seit Generationen abnimmt. Insgesamt wachsen die Zahlen dort nur deshalb noch, weil sie von Neuankömmlingen aus dem globalen Süden aufgestockt werden.6 Das Gebiet in dem die Bevölkerung am stärksten wächst ist Subsahara-Afrika, wo die Bevölkerungsdichte nach wie vor extrem niedrig ist und wo nur sehr wenig von den Ressourcen der Welt verbraucht wird.7 Das liegt daran, dass der „natürliche Reichtum, den sie zur Zeit haben", ihnen größtenteils vom Norden gestohlen wird.8 Schauen Sie sich die Region nachts auf einem Satellitenbild an, um zu sehen, wie wenig Energie in Afrika im Vergleich zu Europa verbraucht wird, oder werfen Sie einen Blick aus dem Flugzeug, wie es Attenborough hunderte Male getan haben wird.

Mit anderen Worten, wenn Sie sich um die Überbevölkerung Sorgen machen, die vermeintlich die Umwelt und das Klima bedroht, dann übersehen Sie die wahre Bedrohung: Es ist nicht die wachsende Zahl der „Habenichtse“ im Süden, sondern der wachsende exzessive Konsum der „Wohlhabenden“ im Norden.

Eine Gruppe, die sich über diese nicht vorhandene „Überbevölkerung" große Sorgen macht, sind die Faschisten, die an den „Großen Austausch“ glauben. Sie glauben, dass die „weißen Rassen" von einer wachsenden Zahl von Afrikaner*innen, Asiat*innen und Lateinamerikaner*innen „überrannt“ werden. Vielen progressiven Menschen ist nicht klar, wie weit diese Überzeugung verbreitet ist, aber es ist an der Zeit, dass sie Bescheid wissen: Dieses Drohszenario ist seit mehr als einem Jahrhundert das Gründungsgelübde der extremistischen Rechten.9

Ökofaschisten sind auch besorgt, dass die Umwelt überrannt wird, ebenso wie viele im Naturschutzsektor, der selber auf eine Geschichte durchzogen von Rassismus und Immigrationsfeindlichkeit zurückblickt.10 Sie sträuben sich vehement dagegen, anzuerkennen, dass auch sie ökofaschistische Überzeugungen vertreten, aber viele von ihnen tun es.

Um diesen Punkt deutlich zu machen, muss man sich nur das Filmmaterial des WWF, das den Ruf nach „Stabilisierung“ der Bevölkerung begleitete, anschauen. Die Bilder sehen so aus, als seien sie am Ufer des Ganges oder an einem ähnlichen Ort gedreht worden. Die Schlussfolgerung ist klar: Die übermäßige Vermehrung von Nicht-Europäer*innen bedroht unsere Welt.

Die sozialen Medien sind sicherlich nicht die beste Quelle für abschließende Antworten auf die Rätsel des Universums oder auch nur für die Probleme unseres Planeten. Lassen Sie uns trotzdem die folgenden Punkte bei dieser Diskussion bedenken: Der Film mag weniger als eine Minute lang sein, aber er hat den WWF zweifellos Tausende Euro gekostet. Expert*innen haben sich das Drehbuch genau angeschaut, um sicherzugehen, dass es fehlerlos war, bevor sie das beste Filmmaterial zur Veranschaulichung der Botschaft auswählten. Die Mitarbeitenden von Attenborough, wahrscheinlich auch er selbst, müssen dem Endschnitt zugestimmt haben. Er ist schließlich einer der erfahrenste Dokumentarfilmer der Welt, und er wählt seine „Themen“ sicherlich mit äußerster Sorgfalt aus. Glauben Sie mir, hier wurde nichts dem Zufall überlassen.

Viele Leute in sozialen Medien reagierten schnell auf den Film – so auch ich. Wir beschwerten uns und zwangen den Naturschutzgiganten, den Film zu entfernen und sich öffentlich zu entschuldigen.11 Aber es ist zu spät. Es ist klar, was der WWF und Konsorten tatsächlich glauben. Diese Geschichte erinnert mich an die Spenden-Kampagne des WWF aus dem Jahr 1994. Sie warf die merkwürdige Frage auf, ob man die Armee oder einen Anthropologen entsenden sollte, um die Zerstörung des Amazonas durch die indigene Bevölkerung zu stoppen (die richtige Antwort war natürlich, dem WWF noch mehr Geld zu geben). Ja, der WWF behauptete tatsächlich, dass die indigenen Völker und nicht die Top-Manager*innen globaler Unternehmen12, die in seinen Gremien sitzen, die Verursachenden der Zerstörung des größten Regenwaldes der Welt sind. Die Fakten zeigen deutlich, dass gerade indigene Völker für die Schaffung und den Erhalt dieses Ökosystems verantwortlich sind und das sie es bei weitem am besten schützen. Das lässt sich heutzutage, anhand von Satellitenbildern des Regenwaldes und Zahlen über die größere Artenvielfalt in den von indigenen Völkern kontrollierten Gebieten, nachweisen.

Die wahre Tragödie bei der ganzen Geschichte ist nicht das, was Attenborough und der WWF glauben – das wird sich nicht ändern, bis klügere Menschen eine führende Rolle übernehmen. Das eigentlich Erschreckende ist, dass sie in der Lage sind, ihre Propaganda einem so großen Teil des globalen Nordens, einschließlich vieler progressiv denkender Menschen, unterzujubeln. 

Vielleicht glauben viele weiße, umweltbewusste Menschen wirklich, dass eine übermäßige Vermehrung von Nicht-Europäer*innen die Erde überrollen wird. Vielleicht sehen sie es als eine Pflicht, ja vielleicht sogar als eine „heilige“ Pflicht an, den Planeten vor den barbarischen Horden zu verteidigen. Das ist die große Unwahrheit, die uns seit über einem Jahrhundert eingetrichtert wird und als Schlüsselkomponente von Rassismus und Anti-Immigration gesehen werden muss. Sie wird sowohl von Unternehmen und großen Stiftungen, als auch von Regierungen gefördert und finanziell unterstützt. Riesige Summen in Form von Budgets, Spenden, Stiftungsvermögen und Steuergeldern werden dafür aufgewendet. Am schlimmsten ist, dass diejenigen, die diese Lüge verbreiten, jetzt planen, durch ihren schrecklichen „New Deal for Nature“, der sich zum größten Landraub der Geschichte aufschwingt, weitere Milliarden Dollar einzusammeln. Sie wollen nicht weniger als ein Drittel des Planeten für ihre „Schutzgebiete“ kontrollieren. Ja, dazu gehört auch Armeen oder private Milizen zu entsenden, um die Menschen vor Ort zu vertreiben.13

Wenn wir die Welt wirklich retten wollen, müssen wir gegen eine solche wahrhaft destruktive Botschaft ankämpfen. Ich vermute, dass es ein Kampf ist, der niemals enden wird, aber genau wie der Kampf gegen Bigotterie, Grausamkeit und Krankheiten ist das kein Grund, sich nicht zu engagieren. Hier ist die eigentliche Wahl: Auf der einen Seite stehen Milliarden von Dollar, auf der anderen Seite Milliarden von Menschenleben.

Attenborough und der WWF sagen: „Wir haben jetzt die Wahl, einen Planeten zu schaffen, auf den wir alle stolz sein können“. Sie untermalen dies mit einer Stadtlandschaft, die anmutet als käme sie aus einem Sci-Fi Film, um zu veranschaulichen, was ihnen vorschwebt.

Es ist eigentlich ein Bild von Singapurs Themenpark „Gardens by the Bay", dessen Bau über 700 Millionen Dollar gekostet hat und dessen Betrieb über 20 Millionen Dollar pro Jahr kostet und der im drittreichsten Land der Welt (pro Kopf gerechnet) liegt.14 Wenig überraschend wurden die futuristischen „Gärten" von Wanderarbeitenden gebaut, denen Gefängnis und Prügel drohen, wenn sie nicht schnell wieder ausreisen. Viele der schlecht bezahlten Bauarbeitenden in Singapur stammen aus Indien.15 Wer weiß, vielleicht sind einige der beteiligten Arbeitenden auch im Clip des überbevölkerten “Ganges” zu Beginn des Films zu sehen? 

Wie dem auch sei, es ist völlig passend, dass die Zukunftsvision von Attenborough und dem WWF ein Themenpark ist, der den Reichen vorbehalten ist. Wenn der Rest von uns eine Wahl hat, dann rechnen Sie bitte mit mir auf der anderen Seite.

Notizen:

1) Link zum Film

2) Der gesamte Text lautet: “Suddenly, saving our planet is within reach. We have a plan. We know what to do. Stop the damaging stuff, roll out the new green tech, stabilise the human population as low as we fairly can, keep hold of the natural wealth we have currently got and we’ll have built a stable, healthy world that we can benefit from forever. We now have the choice to create a planet that we can all be proud of, our planet, the perfect home for ourselves and the rest of life on earth.”

3) Amnesty International. “This is what we die for”: Human rights abuses in the Democratic Republic of the Congo Power the global trade in cobalt. London: Amnesty International, 2016. https://www.amnesty.org/download/Documents/AFR6231832016ENGLISH.PDF

4) Die Milliardäre dieser Welt besitzen so viel Vermögen wie 60% der Erdbevölkerung.
Max Lawson, Anam Parvez Butt, Rowan Harvey, Diana Sarosi, Clare Coffey, Kim Piaget and Julie Thekkudan. Time to care: Unpaid and underpaid care work and the global inequality crisis. Oxford: Oxfam International, 2020. https://oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/620928/bp-time-to-care-inequality-200120-en.pdf

5) Weltbank. “GDP per capita (current US$)”. World Development Indicators. The World Bank Group. 2018.
https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=US-ZG

6) The United Nations Department of Economic and Social Affairs. “Migration and population change – drivers and impacts”. Population Facts, no 2017/8 (2017).

7) Weltbank. “Population growth (annual%)”. 2018.
https://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.GROW?locations=EU-ZG-US-AU-CA-NZ&name_desc=false

8) McVeigh, Karen. “World is plundering Africa’s wealth of ‘billions of dollars a year’”. The Guardian, May 24, 2017. https://www.theguardian.com/global-development/2017/may/24/world-is-plundering-africa-wealth-billions-of-dollars-a-year 

9) Bowles, Nellie. “‘Replacement Theory,’ a Racist, Sexist Doctrine, Spreads in Far-Right Circles”. The New York Times, March 18, 2019. https://www.nytimes.com/2019/03/18/technology/replacement-theory.html

10) Corry, Stephen. “The Colonial Origins of Conservation: The Disturbing History Behind US National Parks”. Truthout, August 25, 2015. https://truthout.org/articles/the-colonial-origins-of-conservation-the-disturbing-history-behind-us-national-parks/

11) https://twitter.com/wwf_uk/status/1268933761573490689

12) Bspw. Coca-Cola, Tata, KPMG, Adamjee, AES, Indus Basin usw.

13) Weitere Informationen findest du hier:
Survival International, Rainforest Foundation UK and Minority Rights Group International. The ‘Post-2-2- Global Biodiversity Framework’ – a new threat to indigenous people and local communities?. London: Survival International, 2020. https://assets.survivalinternational.org/documents/1908/post-2020-biodiversity-framework-briefing-final-survival-rfuk-mrg.pdf 

14) AsiaOne. “Final cost for Gardens by the Bay within budget: Khaw.” AsiaOne, Oct 15, 2012. https://www.asiaone.com/News/

Suneson, Grant. “These are the 25 richest countries in the world”. USA Today, Jul 8, 2019. https://eu.usatoday.com/story/money/2019/07/07/richest-countries-in-the-world/39630693/

15)  Ratcliffe, Rebecca. “’We’re in a prison’: Singapore’s migrant workers suffer as Covid-19 surges back.” The Guardian, April 23, 2020. https://www.theguardian.com/world/2020/apr/23/singapore-million-migrant-workers-suffer-as-covid-19-surges-back

Stephen Corry ist seit 1972 bei Survival International, der globalen Bewegung für indigene Völker. Twitter: @StephenCorrySvl

 

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